SalzAlpenSteig 2023, zweite Hälfte – 133 km

Link zum Fotoalbum

Montag, 07. August 2023 | Anreise nach Schönau am Königsee

Nachdem ich letztes Jahr (auch im August) den ersten Teil des SalzAlpenSteiges vom Chiemsee bis nach Schönau am Königsee stolz geschafft hatte, will ich nun den Kraxelweg bis zum Ende in Obertraun vollenden. Dazu werde ich schon morgen auf der ersten Etappe die österreichische Grenze passieren und dann auch in der Alpenrepublik bleiben.

In allen Wanderführern wird der Weg als 230 km lang beschrieben und in 18 Etappen eingeteilt. Das Unternehmen, wo ich meine Reisen immer buche, ist offensichtlich der Meinung, dass ich das auch in 16 Tagestouren schaffen kann. Letztes Jahr acht und dieses Jahr ebenso. Was an Etappen eingespart wird, kommt zum Ausgleich an Kilometern noch obendrauf. 2022 bin ich 155 km gewandert, dieses Mal stehen mir 133 km bevor. Letztendlich ist das aber gar nicht so entscheidend, sondern die Höhenmeter. 6470 habe ich schon geschafft auf der ersten Hälfte, 6798 stehen mir nun bevor in den nächsten Tagen. Es wird spannend, vor allem, weil ich in den letzten Wochen sehr wenig gelaufen bin.

Ich rede immer in der Ich-Form, aber dieses Mal wandere ich nicht allein, sondern mit meinem Sohn Georg. Damit ist garantiert, dass es auf keinen Fall langweilig wird. Wenn wir beide unterwegs sind, gibt es immer, wirklich immer unvorhergesehene Zwischenfälle. Dass wir auch dieses Mal an dieser Tradition festhalten werden, ist schon besiegelt. Unser Urlaub begann nämlich quasi, als ich noch auf Arbeit war. Georg hat die letzten Wochen in Spanien und Portugal verbracht und wollte von Madrid aus direkt nach Berchtesgaden kommen, wohin ich jetzt gerade von Berlin aus auf dem Weg bin. Vorgestern – ich verbrachte da gerade mit 33 Jugendlichen eine Nacht in der Bibliothek – schickte er mir eine Nachricht, dass er jetzt auf dem Weg sei.

Große Fragezeichen türmten sich über meinem Kopf auf. Es war doch erst Samstag? Jaja, meinte Georg, er würde ja noch ein Weilchen brauchen und wäre dann am Sonntag Nachmittag in Berchtesgaden. Tja – einen Tag zu früh! Aber egal, lieber so als einen Tag zu spät. Er kann dann schon mal die Gegend auskundschaften, bis ich da bin.

Erstaunlicherweise komme ich total pünktlich in Berchtesgaden an, alles hat wunderbar geklappt. Wie vereinbart, steht Georg am Bahnhof und gemeinsam machen wir uns auf den Weg zu „Stoll´s Hotel Alpina“ in Schönau, das in direkter Nachbarschaft zum Georgenhof liegt, wo letztes Jahr meine Wanderwoche endete. Wie sich schnell herausstellt, sind wir an einem sehr geschichtsträchtigen Ort gelandet. Das Hotel ist sehr groß, besteht aus zwei Häusern, einem Park mit Swimmingpool und afrikanischer Holzschnitzkunst. Es gibt ein Schwimmbad im Haus, Sauna, Fitnessraum viele verwirrende Gänge, von denen einer unterirdisch die beiden Häuser verbindet. Dort hängen unzählige Bilderrahmen, die von der Geschichte der Familie Stoll erzählen (in den 30er bis 60er Jahren berühmte Wintersportler) und von den vielen prominenten Gästen, die hier schon übernachtet und gefeiert haben. König Hussein von Jordanien, Franz Josef Strauß, der Bergdoktor, Tony Marshall, die Krupps usw. Im ganzen Haus herrscht eine Symbiose von christlich-klösterlich anmutender Inneneinrichtung und Dekoration mit afrikanischen Motiven. Selbst eine Tür ist reich verziert mit Darstellungen schwarzer Menschen. Vor 10 Jahren hätte ich das vermutlich gar nicht merkwürdig gefunden. Jetzt fällt einem sofort ein: Kulturelle Aneignung!

Nachdem wir unsere Zimmer inspiziert und in Beschlag genommen haben, machen wir einen Spaziergang zum Königsee. Erstaunlicherweise ist es dort geradezu leer. Letztes Jahr bin ich regelrecht geflüchtet vor den Menschenmassen. Langsam meldet sich bei mir der Hunger und Georg schaut nach gut bewerteten Lokalen in der Nähe. Wir finden ein kroatisches Restaurant in der Nähe der Jenner-Talstation, essen eine Kleinigkeit und fahren mit dem Bus zurück zum Hotel. Als Georg seine Fahrkarte mit dem Smartphone bezahlen wollte, pflaumte ihn der Busfahrer an: „Wir sind hier in Bayern, da wird nicht mit dem Handy bezahlt!“ Klare Ansage!

Es ist sehr ungemütlich, kalt und pieselig. Aber morgen solls besser werden. Am Abend treffen wir uns zum Essen im Hotelrestaurant. Georg bestellt Gnocchis mit Gemüse, ich Leberkas mit Spiegeleiern. Der Kellner stellt uns die Teller hin mit den Worten: „Hier kommen die vegetarischen Vitamine und hier die normalen Vitamine.“ Tja, Vegetarier haben es in Bayern eben nicht einfach! Mit Bier und reichlich „Vitaminen“ gefüllten Bäuchen wanken wir in die Lobby, um unser versprochenes Begrüßungsgetränk noch in Empfang zu nehmen. Wir haben reichlich Auswahl und entscheiden uns für ein Schnapserl. Das ist dem Wirt so sympathisch, dass er uns gleich zwei Sorten bringt – einen unverkäuflichen Hausschnaps und einen Enzian in sehr ungewöhnlichen Gläsern. Georg schüttelt sich, ich genieße in kleinen Schlückchen. Das ist doch ein toller Urlaubsbeginn!

Nun freue ich mich auf eine Woche Natur pur und Ausblicke, für die sich die Mühen des Aufstieges lohnen. Wenn ihr wieder mitwandern möchtet, würde mich das sehr freuen!

Dienstag, 08. August 2023 | Schönau am Königsee nach Bad Dürrnberg | 18 km | 830 Höhenmeter

Vermutlich hat mein Wecker sich redlich abgemüht, mich um 7 Uhr, spätestens 7:30 Uhr aus dem Bett zu werfen. Ich habe davon jedenfalls nichts mitbekommen. Als ich voller Schreck auf mein Handy schaue, ist es schon 7:45 Uhr. Um 8 Uhr bin ich mit Georg zum Frühstück verabredet. Das bedeutet – Turbogang einlegen! Ich weiß, dass ich das kann, ohne etwas vom morgendlichen Pflegeprogramm wegzulassen. Vielleicht nicht ganz so sorgfältig, aber ich will ja nicht zum Opernball gehen. Als ich die Treppe runterschreite zum vereinbarten Treffpunkt, ist Georg auch noch nicht da. Ihm gings nämlich genauso wie mir. Wir suchen uns einen strategisch günstigen Tisch, von dem aus wir alles im Blick haben und stärken uns für den bevorstehenden Tag. Auch ein Provianttütchen füllen wir mit leckeren Dingen. Dann Endspurt im Zimmer, denn die Putzfrauen tigern vor meiner Tür unruhig hin und her, nachdem sie diese schon geöffnet hatten. Dann starten wir in den sonnigen Tag. Während Georg den interaktiven Tourenplan, den er sich von der SalzAlpenSteig-Webseite runtergeladen hat, zur Orientierung benutzt, setze ich auf die klassische Methode des Kartenlesens und die Markierungen am Wegesrand. in dieser Kombination sind wir ein gutes Team. Wenn der eine sich nicht sicher ist, noch auf dem richtigen Weg zu sein, weiß der andere weiter und umgekehrt. (An dieser Stelle platziere ich mal eine Rätselfrage. Habe ich im vorherigen Satz einen Fehler gemacht?) Wir bewegen uns Richtung Berchtesgaden auf einem Wegabschnitt an der Ache entlang, den ich letztes Jahr schon gelaufen war und passieren den schönen Triftsteg und finden uns in Straßenspiegeln wieder.

Danach gehts aufi – hoch auf den Hedwigssteig, auf dem wir parallel zum im Tal liegenden Berchtesgaden an der Watzmanntherme vorbeikommen und dann das Salzbergwerk passieren sollten. Das allerdings nur im Konjunktiv, denn wir werden von Forstarbeitern heftigst angeschnauzt, dass wir eine Wegsperrung ignoriert haben. Diese Sperrung bestand aus einem Ast mit vertrocknetem Laub, der quer über dem Weg lag. Wir sind ziemlich sauer, denn erstens hat sich der Typ im Ton vergriffen, zweitens ist ein Ast keine Absperrung, drittens mussten wir mindestens 500 Meter zurück, runter zur Straße und hinter den Forstarbeitern wieder hoch. Außerdem hätte die Unpassierbarkeit des Weges an der Stelle gekennzeichnet werden müssen, wo die Umleitung zu nehmen ist. Aber was solls, streiten lohnt nicht. Das Salzbergwerk ist eine Touristenattraktion, die wir dann auch mal gesehen haben.

Der Weg führt uns an einer Art Bergbaulehrpfad entlang und durch zwei sehr lange, sehr dunkle Tunnel.

Je höher wir steigen, um so besser wird der Fernblick und der Watzmann leuchtet mit dem Himmel um die Wette. Wie immer ist so eine Steigung mit meiner Mutation zur Schnecke verbunden. Ich funktioniere wie ein Uhrwerk, werfe mich ab und zu ins Gras für ein schönes Foto und setze ansonsten bedächtig einen Fuß vor den anderen. Georg scheint Gefallen daran gefunden zu haben, meine gemächliches Hinfortschreiten zu dokumentieren.

Nach einer Mittagspause liegen noch etwa 200 Höhenmeter vor uns, bis wir über eine wunderschöne, saftig grüne und blühende Wiese die österreichische Grenze erreichen. So ein idyllisches, uriges Postenhäuschen habe ich noch nie gesehen. Wir halten das fotografisch fest und betreten österreichischen Boden und somit Bad Dürrnberg, um dieses nach 2 km wieder zu verlassen, denn unser heutiges Hotel liegt auf deutscher Seite.

Nun gehts unglaublich steil bergab auf der Rumpelgasse. Der Name passt wie die Faust aufs Auge zu unserer Fortbewegungsart, von elegant und geschmeidig sind wir sehr weit entfernt. Ich bedaure einen entgegenkommenden Radfahrer, der Zentimeter für Zentimeter sein Rad hochschiebt. Aber vielleicht müssen wir morgen hier wieder hoch, fällt mir voller Schreck ein. Wir haben nämlich den SalzAlpenSteig verlassen, um zu unserem Hotel zu kommen. Könnte sein! Mal sehen, was Georgs morgige Karte für Vorschläge parat hält.

Dann haben wir das Etappenziel erreicht. Vor dem Eingang zum Hotel entdecken wir einen Käfig mit einem Graupapagei. Das Interesse beruht auf Gegenseitigkeit, wir beäugen uns ausgiebig. Georg liefert pfeifend ein paar musikalische Impulse, die Coco (so heißt sie) tatsächlich wiederholt. Ich will auch so einen Vogel!!! Aber ich bin zu alt, er würde mich um Jahrzehnte überleben. Das Hotel hat vier Sterne und bietet einen Komfort, der mich bedauern lässt, morgen hier wieder raus zu müssen. Allein der riesige Eckbalkon ist der Hammer! Natürlich hat das alles auch seinen stolzen Preis. Wir werden freundlich begrüßt (meine Meinung), Georg empfindet die Kommunikation als grantig. Also sie überschlagen sich nicht vor Eifer, aber das will man ja auch nicht. Wir bestellen Kaffee und Kuchen und setzen uns damit raus in die Sonne.

Es folgt eine kurze Zimmerzeit, die Georg zum Schwimmen und Saunieren nutzt. Weiter gehts mit dem Abendessen. Heute ist Ruhetag, aber für die Hausgäste wird trotzdem gekocht, übrigens alles mit Fleisch. Georg bestellt sich eine Käseplatte. Wir reden noch ein bisschen über das Klima, die Rolle und Schuld des Individuums daran und was und ob der Einzelne überhaupt was bewirken kann. Nicht nur diesbezüglich, sondern grundsätzlich. Ein Thema für einen Debattierclub. Auch unterwegs widmen wir uns manchmal strittigen Themen zum Beispiel der Veränderung der Arbeitswelt oder der Frage: „Muss ich von mir selbst in weiblicher Form sprechen?“ Auch mal schön, in Ruhe über diese Dinge sprechen zu können.

Übrigens ist das WLAN und überhaupt der Empfang hier so schlecht, dass ich am Fotohochladen verzweifle. Zudem fiel auch noch der Strom aus. Es sind nicht alle Fotos zu sehen, auf die im Text Bezug genommen wird. Bitte nutzt den Link zum Fotoalbum am Beginn des Tagebuches. Dort sind alle Fotos von Georg und mir versammelt.

Mittwoch, 09. August 2023 | Bad Dürrnberg nach Pass Lueg| 19 km | 690 Hm

Wie immer ignoriere ich den Wecker erfolgreich, habe aber heute keine Lust, zu hetzen und schreibe Georg eine WhatsApp, dass ich um 8 Uhr noch nicht am Frühstückstisch sitzen werde. Er begrüßt das sehr und somit starten wir heute erst um 9:30 Uhr, immer in der Hoffnung, dass der Regen doch noch nachlässt. Tut er aber nicht. Der Tag beginnt und endet mit Nässe von oben, mal mehr und mal weniger. Aber wir sind gut gerüstet und machen uns auf den Weg.

Wieder überschreiten wir die Grenze nach Österreich und arbeiten uns bergauf vorwärts Richtung Truckenthannalm, dem höchsten Punkt der heutigen Etappe. Hinter uns ein Pärchen, das mit Regenschirmen wandert. Sieht irgendwie komisch aus. Es ist gar nicht so unangenehm, bei Regen in der Natur zu sein. Die Luft ist klar, es ist nicht so heiß, alles glänzt und präsentiert sich in kräftigen Farben. Solange die Nässe nicht in die Schuhe kriecht, ist alles in Ordnung. Auch die Wolken, die tief in den Bergen hängen, geben gute Fotomotive ab.

Meistens bilde ich das Schlusslicht, gerade bergauf muss niemand mein asthmatisches Keuchen hören. Georg kann genau sagen, wo es lang geht, auch wenn mal lange Zeit kein Wegzeichen zu sehen war, was mich ja immer ziemlich beunruhigt. Doch bis jetzt hat sein Leitsystem perfekt funktioniert. So kommen wir nach ca. 2 Stunden auf der Alm an, die allerdings geschlossen ist. Sie muss auch mal bessere Tage gesehen haben, wenn man die Realität mit dem Foto im Wanderführer vergleicht. Macht aber nichts, denn die Besitzer haben in einem Brunnen Getränke kühl gelagert und alles lädt dazu ein, sich zu bedienen.

Nach langem Suchen finden wir dann auch die Kasse, nehmen uns ein Radler und eine Weinschorle raus und suchen unter dem Dach der Hütte ein trockenes Plätzchen für eine Rast.

Solche Pausen sind günstig, um auch mal im Gebüsch verschwinden zu können, aber wie immer kommen in dem Moment drei ältere Leute den Berg hoch und lassen sich ebenfalls häuslich nieder. Ich bin ja bekannt dafür, dass stets aus dem Nichts Menschen auftauchen und mich in peinlichen Situationen erwischen. Deswegen nehme ich das gelassen hin in der Hoffnung, dass sie bald weitergehen. Machen sie auch.

Während ich mich also mit solchen archaischen Problemen rumschlage, läuft in Berlin eine Kollegin zu Höchstformen auf und zaubert in einer kreativen Schaffensphase witzige Memes aus meinen Fotos. Die sind so lustig, vor allem auch die Hashtags, dass ich sie hier mit in mein Tagebuch aufnehme:

Nun gehts es den Berg wieder runter und wir denken, dass das im Vergleich zum Aufstieg eine leichte Übung sein wird. Schließlich steht im Reiseführer: „Von der Alm gehen wir auf einem angenehmen Waldpfad bergab…“ Nun ja, ich würde sagen, dass dieser Weg den Namen „Knochenbrecherweg“ eher verdient als der hoch zum Brocken. Wir müssen ganz vorsichtig absteigen. Es ist steil, nass, glitschig, verwurzelt, matschig. Selbst bei trockenem Wetter ist das hier erhöhter Schwierigkeitsgrad.

Zwischenzeitlich wird es etwas angenehmer zu laufen. Ein Bergbach begleitet uns beim Abstieg und präsentiert einen stattlichen Wasserfall.

Die Pflanzen- und Tierwelt lässt sich auch nicht lumpen. Man hat immer was zu schauen. Pilze, Himbeeren, Feuersalamander, Kühe, Schweine, Ziegen, Obstbäume mit Birnen und weithin leuchtenden roten Äpfeln, Wiesenblumen in allen Farben.

Kurz darauf holen wir die ältere Wandergruppe ein an einer Stelle, wo der Weg wieder steiler und rutschiger wird. Sie sind ganz baff, dass wir ohne Stöcke laufen. „Das würde gar nicht gehen“, sagt eine, während sie gaaaanz vorsichtig über eine Weidezaun-Treppe steigt. Georg und ich bleiben hinter ihnen und beobachten, wie eine der Frauen zu schwanken beginnt. Sie ist nicht gestolpert, aber ihre sehr dünnen Beine biegen sich in alle Richtungen, bis sie plötzlich umfällt. Georg hilft ihr gemeinsam mit dem sie begleitenden Mann auf. Ihre Knie schlottern und ich empfehle, unbedingt eine Pause einzulegen. Allerdings muss sie stehen, denn hier gibt es keine Bänke und der Boden ist zu nass. Da die Autobahn, die wir noch überqueren müssen, schon sehr deutlich zu hören ist, vermuten wir, dass es nicht mehr weit nach unten ist und sprechen ihr Mut zu. Wir laufen weiter und bemerken schnell unseren Irrtum. Der Frau werden noch kräftezehrende Mühen bevorstehen. Denn jetzt wirds richtig schwierig. Am Felsen ist ein Drahtseil gespannt, an dem man sich festhalten kann, um nicht den Abhang runterzurutschen. Bloß nicht nach unten schauen! Der Weg wird sehr schmal und holprig. Wir machen uns große Gedanken, ob und wie die entkräftete Frau das überhaupt schaffen wird. Was macht man, wenn man mitten im Wald auf einen Pfad nicht mehr weiterkann? Kommt dann die Bergrettung? Wir hoffen sehr, dass sie es schafft.

Wir jedenfalls sind froh, unten zu sein. Der Weg führt nun durch ein Quellschutzgebiet mit einen Mix aus Wald und Wiesen. Und jetzt passiert es mir: Ich rutsche mit dem linken Fuß auf Matsch weg und knalle mit dem rechten Knie und Schienbein auf einen Stein. Autsch! Ich sehe aus wie ein Wildschwein, das sich im Schlamm gesuhlt hat. Beim Aufstehen merke ich schon, dass die nächsten Schritte sehr schmerzhaft sein werden, vielleicht vergleichbar mit einem heftigen Stoß am Ellenbogen oder Fußzehe. Aber der Schmerz lässt schnell nach. Georg gibt zu bedenken, dass dann eventuell ein Ruhetag besser wäre, um das Knie zu schonen. Aber das kommt natürlich überhaupt nicht in Frage! Kurz darauf verliert Georg das Gleichgewicht, kann sich aber mit der Hand noch abstützen.

Weiter gehts nach Kuchl, dort über die Salzach und dann immer links an deren Ufer weiter nach Golling. Da in unseren Unterlagen rot markiert ist, dass es in unserem Hotel in Pass Lueg nichts zu essen gibt, gehen wir so nass und dreckig, wie wir sind, in Golling eine Pizza essen bei toller 80er Jahre Musik. Am liebsten würde ich bei einigen Titel mitgrölen oder tanzen. Und wie das so ist, wenn man einmal gesessen und auch noch einen vollen Bauch hat, blitzte kurz die Idee auf, ein Taxi zu bestellen für die letzten fünf km. Aber das wäre ja Betrug. Also laufen wir einfach weiter. Georg in quitsch-quatsch-nassen Schuhen, ich mit zerrissenem Regencape und lädiertem Knie, beide schlammbespritzt, vorbei an der örtlichen Bibliothek mit überschaubaren Öffnungszeiten in Richtung Salzachklamm. Dieser letzte Abschnitt ist eigentlich der Beginn der offiziellen nächsten Etappe. Da wir aber morgen zwei Etappen laufen müssen, haben wir davon den Anfang schon hinter uns gebracht. Ich bin sehr froh, dass wir uns fürs Laufen entschieden haben, sonst wäre uns ein Naturschauspiel der Extraklasse entgangen. Wir müssen zwar nochmal richtig ranklotzen zum Schluss auf schwierigen Kletterwegen hoch und runter, aber die Klamm ist sehr beeindruckend! Unten tost die Salzach mit ohrenbetäubender Lautstärke, oben turnen wir auf Treppen und steinigen Stufen herum. Ab und zu ragen Kanzeln über den Hang, von denen aus man sehr gut in die Tiefe schauen kann.

Als wir die Schlucht verlassen, stehen wir direkt vor unserem heutigen Hotel. Drumherum gibt es viel Kriegshelden-Denkmäler, die teilweise sehr merkwürdig anmuten.

Das Foto von der Maximilianquelle hat sich hier übrigens fälschlicherweise mit reingeschmuggelt. Die lag zwei Stunden zurück.

Wir nehmen unsere Schlüssel in Empfang, begutachten unsere Zimmer und sind zufrieden. Erst mal eine heiße Dusche. Georg genießt lieber die Wellness-Rundumversorgung.

Während ich das hier aufschreibe, plattert draußen der Regen seit Stunden aufs Dach. Morgen soll es auflockern. Wir sind optimistisch!

Donnerstag, 10. August 2023 | Pass Lueg nach Abtenau| 21 km | 760 Hm

Mein gestriger Optimismus gerät arg ins Straucheln, als ich im 7:30 Uhr nicht nur vom tyrannischen Weckton meines Handys wach werde, sondern auch von heftigsten Regengeräuschen. Meine erste Amtshandlung des Tages: die bergfex-App aufrufen und das Wetter für heute checken. Es soll um 8 Uhr aufhören zu regnen, steht dort und die Temperaturen von derzeit 9 Grad auf ca. 20 Grad steigen. Und was soll ich sagen – es stimmt! Muss auch, denn mein zerfetztes Regencape liegt im Mülleimer. Schon beim Frühstück sagt uns der Blick aus dem Fenster, dass es wenigstens von oben trocken bleiben wird.

Mein Knie fühlt sich an wie Gummi, deswegen wickle ich eine elastische Binde drum. Nicht, dass es mir geht wie gestern der armen Frau! Gegen 9:30 Uhr sind wir zum Abmarsch bereit. Die Schlüsselübergabe zieht sich etwas hin, ich lasse meinen Blick schweifen und muss lachen: Rezeption neben Mehlspeisen! Irgendwie finde ich das ziemlich schräg.

Hochmotiviert laufe ich draußen zunächst in die falsche Richtung, weil ich mir gar keine andere Möglichkeit vorstellen kann. Aber Georg pfeift mich zurück zum im wahrsten Sinn des Wortes „Einstieg“ in den Weg:

Wie im Wanderführer prophezeit, gehts sofort ca. 2 km bergauf zum Lammeregg. Das ist relativ schnell geschafft mit immer besser werdenden Aussichten auf beeindruckende Wolkenformationen zwischen den Bergen. Noch hängen sie sehr tief. Danach führt uns der Weg durch eine Auenlandschaft, durch Wald und über Almwiesen, zu denen wir Tore öffnen, Elektrozäune abkoppeln und alles wieder schließen müssen. Tiere gibts allerdings kaum außer zwei Pferden.

Es ist das perfekte Wanderwetter. Schnell merken wir, dass heute der Tag des Wassers ist. Nicht von oben Gott sei Dank, aber uns wird die Schönheit, die Lebendigkeit und die Kraft tosender Bäche, Flüsse und Wasserfälle im Übermaß präsentiert. Als wollte man alle Vorkommnisse von Wasser heute erledigt wissen. Dazu regennasse Wälder, feuchte Luft und wassergesättigte Wege mit gefüllten Regenrinnen, Mühlen und Brücken.

Heute haben wir zwei Etappen des SalzAlpenSteigs zu absolvieren, von denen wir gestern schon ein Stück als Bonus obendrauf bekamen. Sonst hätten wir heute fast 30 km laufen müssen. Bei Unterscheffau ist Etappenwechsel. Entlang der gut gefüllten Lammer gehts – wie sollte es anders sein, nach Oberscheffau. In den kleinen Siedlungen, die wir passieren, wird überall gebaut. Neue, gewaltige Häuser aus Holz, Tradition allerorten im Einklang mit der Natur.

Wenn man möchte, kann man sich der Illusion einer heilen Welt hingeben, in der das Leben seit Jahrhunderten gewissen Regeln folgt, die sich bewährt haben und deswegen kein Bedürfnis besteht, daran etwas zu ändern. Allen eventuellen Störungen der öffentlichen Ordnung tritt man mit massenhaften Ver- und Gebotsschildern entgegen. Der Glaube und das Bedürfnis, Gott für das gute Leben zu danken, sind fest verankert. Selbst auf der Speisekarte war heute ein Tischgebet vermerkt:

So hat man das Gefühl, dass sich alles Unheil dieser Welt woanders abspielt, keinesfalls hier in diesem Naturidyll. Das Gute am Wandern ist ja auch, dass man sich auf den Moment konzentriert, auf das Hier und Jetzt. Wichtig ist, dass man es schafft, den Berg hochzukommen, da bleibt nicht viel Platz im Kopf für andere Dinge. Manchmal kommen wir durch ein Gespräch ins Philosophieren, was auch Spaß macht.

Wir jedenfalls arbeiten uns mit Georgs digitaler Wanderkarte voran und haben das Gefühl, die Einzigen auf dem SalzAlpenSteig zu sein, was ja durchaus seine Vorteile hat. Erst auf dem sehr liebevoll gestalteten Mühlenweg bis hin zum Winnerfall wird es belebter, was sich aber danach schlagartig wieder ändert. Das tosende Wasser ist unglaublich laut und man schaut voller Ehrfurcht zu, wie sich die Wassermassen hinabstürzen und durchs Flussbett wälzen.

Ein Rahmen lädt ein zum Posieren. Ich schicke die Bilder an meine kreative Kollegin, die sofort auf diesen Impuls reagiert:

Wir machen kurz darauf eine Pause und wandern danach bei schönstem Sonnenschein wieder bergab über weite Wiesen, umrahmt von hohen Bergen.

Nun ist es laut Schildern nicht mehr weit zum Ziel in Abtenau, noch 1,5 Stunden. Aber der SalzAlpenSteig hat anderes mit uns vor und schickt uns in einem großen Bogen zu den Abtenauer Wasserfällen Tricklfall und Dachserfall. Der Weg dorthin ist ein Pflanzenlehrpfad und wir erfahren viel über deren Verwendung in der „Volksheilkunde“ und über den Grad der Giftigkeit. Gar nicht so uninteressant. Manche haben sehr eindeutige Namen, manche auch recht lustige.

Der Tricklfall ist schnell erreicht, dann gehts bergauf. Und weiter bergauf. Und noch weiter. Steil. Mit Stufenhöhen, vor denen ich Halt mache und überlege, ob ich besser auf allen Vieren hochkrauchen soll. Leider kommt das auf den Fotos nie so rüber, wie es in Wirklichkeit aussieht. Aber ihr könnt mir glauben – das war nochmal ein ganz fieser Abschnitt zum Schluss, zumal wir vorher mental schon im Hotel waren.

Aber wir werden belohnt mit diesem Anblick. Das Wasser kommt aus mehreren Felslöchern rausgeschossen und macht ohrenbetäubenden Lärm. Trotzdem empfindet man diese Geräuschkulisse nicht als störend.

So, denken wir. Nun ist es aber nicht mehr weit. Jetzt noch 3 km, maximal eine Stunde Gehzeit. Schaffen wir. Vorbei an einer Jausenstation, empfiehlt unser Reiseunternehmen, nun abzubiegen vom Steig Richtung Abtenau. Wir aber sind so auf die gekennzeichnete Route geeicht, dass wir auf dem SalzAlpenSteig bleiben. Bergauf natürlich, was sonst und auf dem besten Weg, uns der Karkogelalm anzunähern, die wir aber erst morgen auf dem Plan haben. Ich streike und will wieder zurück zu der Stelle, wo wir hätten abbiegen sollen. Georg versucht mir hingegen zu erklären, dass das Blödsinn ist, weil es an der nächsten Wegbiegung einen Abzweig nach Abtenau gibt und das viel kürzer ist als der Weg zurück. Vermutlich stimmt das, aber ich will auch rechthaben. Wir streiten noch ein bisschen rum und laufen dann weiter. So kommen wir tatsächlich nach einer letzten Steigung auf eine Straße hinab zur Karkogel-Seilbahn-Talstation und von dort nach 1,7 km zum Gasthof zur Post.

Unsere Zimmer sind riesig, das Hotel auch. Georg wohnt in der ersten Etage, ich in der dritten. Um zu den Zimmern zu gelangen, müssen wir durch lange Gänge um mehrere Ecken biegen. Es gibt einen Duschraum, einen Toilettenraum, ein sehr geräumiges „Wohnzimmer“ und einen Balkon mit Aussicht auf die Berge, die kurz vor Sonnenuntergang zu glühen beginnen.

Wir verabreden uns für 18 Uhr, ich soll Georg abholen, um dann gemeinsam essen zu gehen. Nachdem ich meine „Plünnen“, wie meine Freundin Kerstin immer sagt, sortiert und umgeschichtet habe, humple ich frisch geduscht und mit Muskelkater die Treppe runter und begebe mich zu der Ecke mit Georgs Zimmer. Ich klopfe. Nichts. Ich drücke die Klinke runter. Abgeschlossen. Plötzlich höre ich leise: „Moment bitte!“. Die Tür geht auf und ein älterer Herr schaut mich fragend an. Kurze Schockstarre meinerseits, bis ich realisiere, dass ich in der falschen Etage bin. Wie peinlich! Ich entschuldige mich tausendmal und schleiche davon. Später im Restaurant sitzt der Mann in Sichtweite und ich sage zu Georg: „Schau mal, der Mann da drüben wohnt in Zimmer 210!“

Wir bestellen dunkles Bier und finden auch was Passendes zu essen.

Ich nehme mir noch ein Kännchen Rotwein mit aufs Zimmer und paffe endlich mal eine Krumme (dünne Zigarre), mit der wir früher traditionell immer beim Wandern den Tag beendeten. Kerstin hat sie mir mit auf die Reise gegeben, also muss ich quasi gezwungenermaßen rauchen. Das wäre sonst unhöflich, oder?

Georg hingegen geht auf Entdeckungstour durchs Hotel und findet einen Aschenbecher im Aufzug und viele Hinweise auf die Hotelgeschichte in Familientradition. Wir haben auch beide im Zimmer ein Foto der Besitzer mit einem Begrüßungsspruch.

Nun müssen wir uns erholen, denn morgen kommt eine harte Tour auf uns zu mit 1200 Höhenmetern aufwärts und fast genauso viel abwärts. Da wir aber heute unfreiwillig mehr Kilometer als vorgesehen gelaufen sind, gönnen wir uns eine Seilbahnfahrt, die uns immerhin 400 Höhenmeter erspart. Ich glaube, da müssen wir auch kein schlechtes Gewissen haben.

Freitag, 11. August 2023 | Abtenau nach Annaberg | 15 km | 1209 Hm

Zuversichtlich starten wir in die nächste Etappe. Der Blick vom Balkon verspricht schönstes Wetter für den Marsch hoch hinauf in die Berge. So schlimm kann es ja nicht werden, schließlich sparen wir die ersten 400 Höhenmeter durch unsere Seilbahnfahrt. Mit uns in der Kabine sitzt eine hebräisch sprechende Familie und ich lausche interessiert dem Klang dieser vertrauten Sprache, ohne auch nur ein Wort zu verstehen. An der Karkogelhütte steigen wir aus und sehen auch schon gleich das vertraute Wegzeichen an einem Zaun. Zunächst folgen wir einem breiten Waldweg, aber schon bald werden wir den Hang aufwärts geleitet. Schnell wird klar, das bleibt jetzt so die nächsten 400 Höhenmeter. Wir kommen an einer sich im breitesten Sächsisch unterhaltenden Gruppe Rentner vorbei. Sie haben meine vollste Bewunderung, dass sie sich diesem Marsch aussetzen. Unser Ziel ist die Gsengalm. Ich suche mir zwei gerade Äste als Wanderstöcke, die den Aufstieg wesentlich erleichtern, da man die Beine mit der Kraft der Arme ein bisschen unterstützen kann.

Die Steigung kommt auf den Bildern nicht zum Ausdruck, aber man kann die Bodenbeschaffenheit gut erkennen. Die Wurzeln dienen sozusagen als Treppen. Hier mal der Versuch, den Aufstieg zur Veranschaulichung zu filmen:

Lauftechnisch kein Problem, nur das Luftholen wird zur Schnappatmung. Die Wärmeregulierung erfolgt bei mir in einer Kombination aus Hund und Mensch – hecheln und tropfen. Ab und zu stehenbleiben, trockenwischen und den Flüssigkeitsverlust mit einem Schluck aus dem Wasserschlauch ausgleichen. Das ist übrigens eine prima Erfindung – man muss den Rucksack nicht absetzen, um an die Wasserflasche zu kommen. Der „Wasserhahn“ hängt griffbereit über meiner Schulter und so trinke ich öfter mal was. Irgendwann ist dieser Abschnitt geschafft und es geht relativ entspannt weiter mit fantastischen Ausblicken auf das Bergmassiv. Georg entdeckt den Fotografen in sich:

Man muss bei jedem Schritt nach unten schauen, sonst kommt man schnell ins Straucheln. Manchmal gibt es auch kleine Hilfsmittel wie Steigeisen oder Leitern, um größere Höhenunterschiede besser überwinden zu können.

In der Ferne können wir bald die Gsengalm erkennen, zu der wir nun wieder absteigen müssen, um nach einer kleinen Rast bei Buttermilch, Schmalzbrot und Weizenbier die letzte, relativ kurze, dafür aber heftige Steigung hinauf zum Berliner Kreuz (ca. 1600 Höhenmeter) in Angriff zu nehmen. Die Vegetation wird hier merklich spärlicher, an Bäumen findet man nur noch vereinzelt Lärchen. Aber wir entdecken immer wieder blühende Sträucher und Pflanzen, die wir mit Google Lens auch problemlos identifizieren können. So ganz nebenbei belegen wir auch noch einen Botanik-Kurs.

Endlich oben am Kreuz, werden wir mit einem fantastischen Rundumblick belohnt. Natürlich tragen wir uns auch ins Gipfelbuch ein mit einem Gruß vom Berliner Kreuzberg zum Berliner Kreuz.

Und nun beginnt das Martyrium, denn wir müssen ja nun auch wieder runter. Mein Knie hat immer noch mit den Folgen des Sturzes zu kämpfen und ich versuche, es möglichst wenig zu belasten, ist aber schlecht möglich. Deswegen dauert der Abstieg außergewöhnlich lange und Georg ist meistens schon weit voraus und wartet an der nächsten Wegbiegung auf mich. Hinzu kommt das Phänomen, dass plötzlich meine Schuhe zu klein zu sein scheinen oder meine Füße gewachsen sind. Diese Wanderschuhe begleiten mich schon einige Jahre und haben mich über weite Strecken getragen. Was ist passiert? Ich eiere von Stein zu Stein und mag gar nicht daran denken, dass das nun zwei Stunden so weitergehen wird, in meinem Fall vermutlich drei.

Eine Forststraße schafft vorübergehend Erleichterung und ich hoffe inständig, dass wir sie nicht mehr verlassen müssen. Aber an einer Stelle zeigt sich, dass die digitale Karte sehr von Vorteil ist. Die Wegmarkierung lässt nämlich nicht erkennen, dass wir nun schräg runter müssen über eine Wiese. Aber Georg beharrt darauf, dass dem so ist. Und er hat recht! So kommen wir in ein Dorf, das aber noch lange nicht unser Zielort Annaberg ist. Uns stehen noch etwa 7 km bevor, weil das Hotel Dolomitenhof nicht direkt im eine Stunde entfernten Annaberg, sondern im Ortsteil Steuer liegt. Um diesen Endspurt zu schaffen, müssen wir auf jeden Fall nochmal eine Pause einlegen. Die nächste Bank ist unsere! Doch weit gefehlt – sie ist schon besetzt. Als wir erkennen, wer da sitzt, gibts ein großes Hallo. Es ist die Gruppe mit der Frau, die einen Schwächeanfall hatte. Jetzt freuen wir uns aber doch, die drei putzmunter anzutreffen. Es sind Geschwister, wie sie uns verraten. Sie machen jedes Jahr eine gemeinsame Wanderung, damit sie sich wenigstens ab und zu mal sehen. Das finde ich sehr symphatisch. Sie haben an der heutigen Tour auch ganz schön zu knabbern und sind der Meinung, dass das Wegeleitsystem bei der Streckenlänge ganz schön schummelt. Das Gefühl habe ich heute ganz subjektiv auch. Wir ziehen dann Google Maps zu Rate und lassen uns den direkten Weg zum Hotel anzeigen. Damit streifen wir Annaberg nur, müssen aber noch vier km eine öde Landstraße – wie kann es anders sein – bergauf Richtung Steuer laufen. Ich hab keine Lust mehr. Tip Tap, Tip Tap. Boah, noch 3,5 km. Viele Autos rauschen an uns vorbei. Kann denn nicht mal jemand anhalten und uns mitnehmen? Was sind das alles für egoistische Leute? Wieso hat das Reiseunternehmen uns so weit weg die Zimmer organisiert? Immer noch 3,5 km. Die Etappe ist zu Ende und wir laufen immer noch. Das ist unfair. Das ist gemein. Ich habe keine Lust mehr. Ich werde mich beschweren. 3 km. Die hätten hier ja auch mal eine Bank aufstellen können. Shuttlebus wäre auch eine Option. Immer noch Landstraße. Tip Tap, Tip Tap. Seit wann sind meine Schuhe so schwer? Georg sieht ebenfalls etwas unmotiviert aus. Oh, noch 2 km. Hälfte geschafft. Wenn wir angekommen sind, trinke ich erst mal ein Bier. Hoffentlich können wir dort was essen. Ich will nicht mehr laufen. Ich will duschen. Vier km können doch nicht so lang sein! Tap, Tap, Tap. 1,5 km. Eine Brücke! Hinter der Kurve muss dann der Abzweig sein. Da ist eine Seilbahnstation. Und ein Parkplatz. Kein Abzweig. Weiter. Kann doch jetzt nicht mehr weit sein. Warum bin ich nicht zu Hause geblieben statt abends eine vielbefahrene österreichische Landstraße langzumarschieren? Noch 1 km. Ich hab Durst! Ich will ins Bett und schlafen. Muss den Bericht schreiben. Morgen wieder so eine Tour. Wer denkt sich denn solche Strecken aus? Häuser! Sind wir da? Noch 700 Meter. Bergauf, war ja klar. Endlich!!! Wir sind da!

Ein Hotel mit Schießstand. Mal was anderes. Wir werden freundlich empfangen und getröstet, dass wir ja heute schon ein Stück der morgigen Etappe gelaufen sind. Nach dem Essen ziehen wir uns auf unsere Zimmer zurück. Ich bin froh, es irgendwie die Treppen hoch zu schaffen und frage mich, wie ich morgen weiterlaufen soll. Knie, Schienbein und Füße tun weh. Vielleicht hilft es, wenn ich eine Schmerztablette nehme. Dann lagere Ich die Knie hoch und versuche, unsere Erlebnisse aufzuschreiben, scheitere aber kläglich. Ich schlafe immer wieder ein und gebe auf. Schnell noch den Wecker gestellt und ab ins Traumland.

Samstag, 12. August 2023 | Annaberg – Gablonzer Hütte| 11 km | 1269 Hm

Als ich aufwache (ohne Wecker!), habe ich keine Knieprobleme mehr, keinen Muskelkater, nichts tut weh, die Schuhe passen wieder. Als wäre nichts gewesen. Bin ich froh! Gestern scheine ich noch merkwürdige Dinge am Laptop gemacht zu haben. Alle Fotos des Tages sind weg, wie ich staunend feststelle. Aber ich finde sie im Papierkorb wieder. Ich versuche, noch vor dem Weiterwandern das Tagebuch auf den aktuellen Stand zu bringen, schaffe das aber natürlich nicht. Wir müssen ja los. Noch während ich im Zimmer bin, versucht eine Angestellte zweimal, reinzukommen. Obwohl es erst 9 Uhr ist. Ich fühle mich gehetzt! 9:30 Uhr gehts dann auf Richtung Gablonzer Hütte, unserem heutigen Ziel. Da wir nicht von Annaberg loslaufen, sondern schon ein Stück weiter sind, steht uns laut Plan nur der Aufstieg zur Stuhlalm bevor, ca. 450 Höhenmeter auf einer Strecke von 1,5 km. Das sind ca. 30% Steigung. Da kommt man ganz schön ins Schwitzen! Der Weg ist wie gestern ziemlich wurzelig und oft nur mit großen Schritten nach oben zu bewältigen. Ich suche mir wieder einen Stock, den zweiten findet Georg. So geht das Ganze viel leichter.

Nach dem Stück durch den Wald gehts über Almwiesen weiter, deren Steigung aber auch nicht zu verachten ist. Die Sonne brennt gnadenlos. Gestern hatten wir uns beide einen Sonnenbrand zugezogen, weswegen ich heute, wenn auch äußerst widerwillig eine langärmelige Bluse angezogen habe und zusätzlich das Genick durch ein Tuch schütze. Waren wir in den vergangenen Tagen meistens allein unterwegs, herrscht heute ein reges Begängnis. Manchmal werde ich von jungen Leuten mit dynamisch federnden Schritten überholt, aber es gibt auch Entgegenkommende. Jedesmal an diesen Schnittstellen versuche ich, meine Atmung auf lautlos zu schalten. Was sollen die Leute denn sonst von mir denken? Je höher wir kommen, um so bessere Sicht haben wir auf das Alpenmassiv mit Dachstein und Tennengebirge.

Nach einer gefühlten Ewigkeit ist die Stuhlalm erreicht. Georg sitzt schon gemütlich beim Weizenbier, als ich wie durchs Wasser gezogen auch endlich auftauche. Übrigens wurde dort der Film „Die Wand“ gedreht, an den ich mich noch sehr gut erinnern kann. Wir bestellen uns was zu essen. Georg Hummus und ich Guglhupf, beides sehr liebevoll dekoriert.

Beim Studieren der Speisekarte staunen wir nicht schlecht- es gibt gehackte Sau! Wenn man aufmerksam zuhört und und liest, kann man nebenbei Oberösterreichisch lernen.

Eine Herde Kühe schaut vorbei und schnuppert interessiert an einem verschwitzten Shirt, das jemand zum Trocknen über den Zaun gehängt hat. Wir machen es uns nach dem Essen und vor dem nächsten Abschnitt auf einer Schaukelbank gemütlich und es gibt eigentlich keinen Grund, diese jemals wieder zu verlassen. Sanft gewiegt den Ausblick genießen, was kann es Schöneres geben?

Aber wir wollen auch die anderen zahlreichen Alm-Gäste in den Genuss kommen lassen und bereiten uns auf das nächste Stück Weg zur Gablonzer Hütte vor. Das kann nicht so schlimm werden. Im Reiseführer steht: „Da der Weg sich nun mit recht kleinen Auf- und Abstiegen zufriedengibt, kann man das herrliche Panorama genießen.“ Er beginnt auch ganz entspannt mit ganz leichter Steigung über die blühenden Wiesen.

Doch die kleinen Auf- und Abstiege entpuppen sich als die schwierigste Strecke des Tages, die sehr gute Trittsicherheit und Schwindelfreiheit erfordern. Sind schon die Wurzeln, Felsbrocken und schmale Trittmöglichkeiten eine Herausforderung, kommt das Meisterstück in Gestalt eines Geröllfeldes auf uns zu. Ich beginne meine beiden Stöcke zu lieben, ohne sie wäre ich hilflos. Georg lässt sich stellenweise auf allen Vieren nieder, um unbeschadet vorwärtszukommen. Wir staunen nicht schlecht, als uns zwei junge Männer im Laufschritt entgegenkommen, als wäre das die ideale Jogging-Strecke, während wir bedächtig einen Fuß vor den anderen setzen.

Normalerweise stimmen unsere Laufgeschwindigkeiten immer mit denen auf den Wegweisern überein, aber dieses Mal brauchen wir für die veranschlagten 1,5 Stunden mehr als 2 Stunden. Aber wir schaffen es und nur darauf kommt es an. Die letzten 20 Minuten gehts nochmal steil hinauf. War die ganze Zeit die Aussicht fantastisch, ist sie jetzt grandios. Wir können bis runter zum Gosauer See schauen, in der Ferne leuchtet ein Gletscher.

Hier scheint auch eine Art Wegkreuzung zu sein, es geht jedenfalls zu wie auf dem Bahnhof. Wanderer, Kletterer und Extremsportler kommen an dieser Stelle offenbar auf ihre Kosten. Nun ist es nicht mehr weit bis zur Gablonzer Hütte, dem Ende der heutigen Etappe. Da wir dort aber nicht übernachten können, fahren wir mit der dicht gefüllten Kabinenbahn runter nach Gosau, darin ein ca. vierjähriges Kind, dass seine Leidenschaft fürs Schreien voll auslebt. Sein Vater erzählt den anderen, dass das Kind sehr liebenswert wäre, wenn es schläft. Die armen Eltern. Wir müssen nun noch ein Stück mit dem Bus fahren, um zum Hotel zu kommen. Hier bleiben wir jetzt zwei Nächte, denn Gosau ist das Ende der morgigen Etappe. Das Vital-Hotel ist riesig mit Schwimmbad, Sauna, Infrarot-Kabine, Sporthalle, Fitness-Raum, Tennis-Anlage, Weinkeller, Erlebnis-Stadel, Streichelzoo u.v.m. Beim Einchecken schreibt Georg bei mir ins Formular unter „Akademischer Titel“: Dipl.-Bibl. Das fällt dem Hotelier sofort auf und er fragt irritiert, was das bedeutet. Als wir ihn aufklären, meint er: „Eine Belesene! Das ist eine aussterbende Spezies! Jetzt gibts ja nur noch Dumme.“ Wir haben ein gemeinsames Zimmer mit zwei Schlafzimmern, einem Balkon, einer Toilette und einem Bad.

Georg geht wieder in den Wellness-Bereich, ich mache Wellness in der Dusche und danach gehen wir essen. Außerhalb des Hotels, weil uns der nette Mensch am Empfang abgeraten hat, im Haus zu essen. Grund: Es gibt nur Buffet und das kostet 30 € pro Person. Das findet er zu teuer. Recht hat er. Auf dem Heimweg wird es schon dunkel, kurz darauf gibts ein Gewitter. Aber morgen solls wieder sehr heiß werden.

Sonntag, 13. August 2023 | Gablonzer Hütte – Gosau | 10 km | 117 Hm

Wie ihr seht, kann man die heutige Etappe eigentlich als Ruhetag bezeichnen. Jedenfalls die zu bewältigenden Höhenmeter sind ja geradezu lächerlich. Allerdings geht es dafür etwas mehr als 900 Höhenmeter abwärts. Das haben Georg und ich wohl so abgespeichert und wir strafen unsere Wecker mit Missachtung. Als ich das erste Mal auf die Uhr schaue, ist es 7:20 Uhr. Na gut, denke ich, noch 10 Minuten, dann stehe ich auf. Als ich Minuten später wieder nachschaue, ist es 8:15 Uhr. Wie das passieren konnte, verstehe ich nicht. Also schnell duschen, Georg wecken und frühstücken gehen. Wir sind überwältigt. So ein großes Frühstücksbuffet haben wir noch nicht erlebt in der letzten Woche. Wir bekommen einen Platz zugewiesen und dann heißt es erst einmal: Überblick verschaffen! Ganz schnell erkennen wir, dass letztendlich sogar noch weniger Vielfalt herrscht als sonst. Die Vitrinen mit Käse, Wurst und dem üblichen Angebot gibt es einfach nur mehrmals. Schilder weisen darauf hin, dass es strengstens untersagt ist, etwas vom Buffet mitzunehmen nach draußen. Na gut, auf der kurzen Wanderung heute brauchen wir auch keinen Proviant. Als wir wieder im Zimmer ankommen, sind die Betten gemacht, mein Nachthemd ist ordentlich zusammengelegt, wir haben saubere Gläser und Wasser bekommen, nur Georgs Hab und Gut wurde nicht aufgeräumt. Unerhört.

Schnell das Nötigste zusammengepackt, dann eilen wir zum Bus, mit dem wir die Strecke von gestern rückwärts nehmen wollen zur Gosaukamm-Kabinenbahn. Abfahrtszeit ist 10:02 Uhr. Wir stehen an der Haltestelle in der jetzt schon unerträglich prallen Sonne und warten. Um 10:10 Uhr geben wir die Hoffnung auf, dass der Bus noch kommt und wechseln erst einmal in den Schatten auf der anderen Straßenseite. Es gibt drei Optionen für uns. Entweder wir warten hier eine Stunde auf den nächsten Bus oder wir rufen ein Taxi oder wir laufen die Strecke von heute umgekehrt, also von Gosau hinauf zur Gablonzer Hütte und dann mit der Seilbahn zurück. Letztere Option verwerfen wir gleich wieder. Wir sind froh, mal nicht so viele Höhenmeter aufwärts vor uns zu haben. Eine Stunde warten hört sich auch nicht gut an. Also Taxi. Georg fällt ein, dass er bei Uber noch ein Guthaben hat und bestellt dort. Es dauert eine Weile, dann wird ein Fahrer gesucht, dann wird der Auftrag abgesagt. In dem Moment fährt gegenüber der verspätete Bus vorbei. Na toll. Also haben wir jetzt ca. 45 Minuten Zeit, im Ort ein bisschen spazieren zu gehen. Dabei finden wir einen Geschichtslehrpfad, den wir sonst nie entdeckt hätten.

Hat also immer alles eine positive Seite. Der Bus um 11:02 Uhr kommt auch zu spät, aber nun wissen wir ja, dass man nur Geduld haben muss. Schnell sind wir an der Seilbahn und fahren in der schaukelnden Gondel hoch zur Gablonzer Hütte, dem Startpunkt der heutigen Etappe. Von meinen Stöcken, die ich gestern ins Gras gelegt hatte, ist nur noch einer da. Dann muss ich mir eben wieder einen suchen, kein Problem. Und los gehts mit unserem Abstieg auf dem Herrenweg nach Gosau, für den 3,5 Stunden veranschlagt werden. Wir kommen an wundervollen Ausblicken vorbei, laufen über die unterschiedlichsten Sorten Weg und das alles überwiegend durch schattigen Mischwald.

Ab und zu treffen wir auf andere Wanderer oder auch Radfahrer, an manchen Stellen bimmeln aus dem Wald heraus Kuhglocken. Wir sind immer wieder überrascht, dass sich die Herden bis ins tiefste Dickicht zurückziehen. Dann kommt uns eine Gruppe junger Männer entgegen. Einer ist barfuß, der andere schlurft in Badelatschen hinterher mit einer tragbaren Musikbox und zwei folgen, davon einer im Bikini. In Berlin hätte man dieser Prozession gar keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt, aber hier im tiefsten Wald der österreichischen Alpen fallen die Jungs schon ein bisschen aus der Rolle. Einer ruft: „Nicht wundern! Wir machen das nicht freiwillig! Das ist ein Junggesellenabschied!“ Ich spreche dem Bikini-Mann Mut zu: „Sieht aber richtig gut aus!“ Alle lachen und marschieren weiter. Ich würde ja zu gerne wissen, ob sie bis nach oben zur Gablonzer Hütte wollen. Jedenfalls haben alle ihren Spaß.

Wir nähern uns Gosau und entdecken im Tal unser Hotel. Ich zoome es mit dem Handy näher ran und wir können sogar Georgs Bademantel auf dem Balkon erkennen.

Als wir aus dem Wald herauskommen, stehen wir direkt am Kalvarienberg mit einer kleinen Kapelle mit einer Art Königsthron aus Holz daneben für die SalzAlpenSteig-Wanderer. Den Platz darauf haben wir uns verdient.

Von dort aus schlängelt sich ein Weg mit den Stationen der Kreuzigung hinab in den Ort, quasi die Via Dolorosa von Gosau.

Wir wundern uns darüber, dass dieser relativ kleine Ort (übrigens evangelisch) zwei Kirchen hat. Wir schauen uns noch die katholische Kirche an und kehren danach beim Kirchenwirt ein. Da wir heute noch später weggekommen sind als eigentlich geplant, ist es mittlerweile schon fast 16 Uhr, gerade noch Zeit, um eine süße Zwischenmahlzeit zu nehmen. Der Biergarten ist traumhaft und wir lassen uns unter schattigen Bäumen nieder. Die Bedienung erklärt uns als erstes, dass es noch keine Küche gibt. Getränke dürfen wir aber bestellen. Ich frage nach Apfelstrudel, denn das zählt für mich nicht zu den Gerichten aus der Küche, sondern zu Kuchen. „Keine Küche!“ wiederholt sie nachdrücklich. Dann eben nicht. Georg bestellt einen Kaffee und wird gefragt, was er denn essen würde, falls es Küche gibt. Er: „Falafel!“ Sie: „Nein! Kuche! Welche Kuche?“ Hm. Hatte sie nicht eben erzählt, es gäbe auch keinen Kuchen? Was denn nun? Sie wolle mal schauen, vielleicht gibt es ja doch Kuchen. Schließlich bekommen wir beide Apfelstrudel und ich einen löslichen Kakao mit Sprühsahne.

Eins wissen wir nun auf jeden Fall: Hier werden wir heute Abend nicht essen gehen. Auf dem Weg zurück zum Hotel entdecken wir noch ein wunderschönes Haus:

Nun ein bisschen chillen, packen, Schuhe putzen, Wäsche waschen, dann machen wir uns auf den Weg zur 1 km entfernten Gosauwirtschaft. Dort sitzen wir vor herrlichem Alpenpanorama mit freundlicher Bedienung und gutem Essen. Ein entspannter Abschluss eines erholsamen Tages.

Morgen wird es dann wieder zur Sache gehen bei 33 Grad und etlichen Höhenmetern sowie schmalen Pfaden, wie im Reiseführer angekündigt. Georgs Fitness-App hat ausgerechnet, dass wir vorgestern 160 Stockwerke hochgelaufen sind. Das hört sich beeindruckend an! Man könnte das auch in Fernsehturm-Maßeinheit ausdrücken. Vorgestern sind wir 3,44 mal den Fernsehturm hochgelaufen und morgen 2,67 mal. Falls ich abends noch in der Lage bin, werde ich natürlich gleich vom Tag berichten.

Montag, 14. August 2023 | Gosau – Bad Goisern | 14 km | 983 Hm Aufstieg | 1216 Hm Abstieg | Höchster Punkt 1583 Meter

Ein sehr anstrengender Tag steht uns bevor, für den im Reiseführer 7,5 Stunden Gehzeit eingeplant werden. Das ist ordentlich! Es wäre sinnvoll, unter diesem Aspekt mal ein bisschen eher zu starten, aber irgendwie schaffen wir das nie, auch heute nicht. Es wird wieder fast 10 Uhr, was bedeutet, dass wir mit Pausen nicht vor 18:30 Uhr in Bad Goisern ankommen werden. Bei brütender Hitze schon um diese Uhrzeit marschieren wir los, anfangs entspannt durchs Tal,

doch schon nach ca. 1 km beginnt der Aufstieg zur Goisererhütte über die Iglmossalm, der auf dem Wegweiser mit 2,5 Stunden veranschlagt ist. Die brauchen wir auch, um den schweißtreibenden Höhenunterschied zu bewältigen. Georgs App sagt am Abend, dass wir 170 Stockwerke bewältigt haben. Die Bodenbeschaffenheit ist die übliche: Wurzeln und Steine, dann auch mal wieder eine Forststraße. Man sollte den Blick möglichst immer auf die Füße richten, um die Stolpergefahr gering zu halten. Außerdem ist das auch gut für die Motivation, wenn man nicht ständig sieht, wie sich der Weg endlos nach oben schlängelt. Ich habe mir eine Strategie angeeignet, mit der ich ganz gut zurechtkomme. Ganz kleine Schritte, kaum größer als meine Schuhe. Dazu klick klack meine beiden Stecken, mit denen ich mich zentimeterweise hochhieve. So komme ich nicht so extrem außer Atem. Georg ist meistens schon weit voraus und wartet wie ein Paparazzo an Stellen, wo man ihn nicht vermutet.

So gehts langsam, sehr langsam immer weiter hinauf, bis wir ein Hüttendorf erreichen, das merkwürdig verlassen aussieht. Aber das ist noch lange nicht unser Ziel. Ab und zu gibt es Infotafeln, auf denen man ablesen kann, dass die zurückgelegte Strecke lächerlich kurz ist im Vergleich zur noch zu bewältigenden, obwohl ich das Gefühl habe, schon Stunden unterwegs zu sein. Aber nach 400 Hm kommt dann endlich die Iglmoossalm in Sicht. Da wir mit krimineller Energie vom Frühstücksbuffet Proviant eingepackt haben, nehmen wir hier die Gastronomie nicht in Anspruch, sondern machen auf einer Bank Pause, bis die Sonne uns vertreibt. Georg findet einen Murstein, den wir ein Stück weitertragen, damit er auch anderen eine Freude bereitet. Es gibt dafür extra eine Facebookgruppe, in der unserem Fundstück mehr begeisterte Aufmerksamkeit zuteil wird als den Posts auf der Seite der Mark-Twain-Bibliothek in einer Woche. Beneidenswert.

So, genug ausgeruht – schließlich wollen wir nochmal so hoch klettern zur Goisererhütte, dem höchsten Punkt des heutigen Tages. Wir tropfen beide aus jeder Pore, denn es ist wahnsinnig schwül und heiß. Meine Idee, mir etwas Ablenkung durch Podcasts zu verschaffen, scheitert am nicht vorhandenen Internetempfang. Aber wir kommen voran und legen an den Saugruben eine weitere kleine Verschnaufpause ein.

Endlich kommt die Schartenalm in Sicht, die ein Vorbote der nicht mehr weit entfernten Goisererhütte ist.

Nochmal ca. 100 Hm, dann sind wir oben, überwältigt von der Aussicht auf Bad Goisern, das als Spielzeugstadt sehr weit unten im Tal liegt und wohin wir nachher wieder abwärts steigen müssen. Mir graut es schon davor! Aber jetzt wird erst mal eine richtige Mittagspause eingelegt. Wir versuchen, den Gesprächen der Leute zu folgen, aber meistens vergeblich. Ober-Österreichisch ist wie eine Fremdsprache.

Wenn man so einen hohen Berg erklommen hat, denkt man, das meiste geschafft zu haben. Wir müssen ja nur noch runter, man sieht den Ort schließlich schon, so schlimm kann das alles nicht sein. Aber vorher bezahlen wir natürlich noch. Der Wirt fragt, was er alles berechnen soll. Ich: „Ach, können wir uns das aussuchen?“ So machen wir unsere Späßchen, ich gebe ihm das Geld, er bedankt sich freundlich und geht zum nächsten Tisch. Plötzlich fällt mir voller Schreck ein, dass ich meine Tasse Kaffee unterschlagen habe. Sage ich noch was? Nö. Mit dem Trinkgeld ist das abgegolten, rede ich mir die Zechprellerei schön. Hat sowieso nicht geschmeckt. Eine Familie am Nebentisch hatte eine Rechnung von 100 €. Ich glaube, ich muss kein schlechtes Gewissen haben.

Na dann wollen wir mal den Abstieg wagen. Dreimal den Fernsehturm abwärts. Wieder mal weiß ich meine beiden Stöcke sehr zu schätzen, denn jetzt heißt es zweieinhalb Stunden lang: Aufgepasst! Ist beim Hochlaufen immer die Schnappatmung mein Problem, muss man abwärts ganz genau abwägen, wohin man seine Füße setzt. Möglichst nicht auf kleines Geröll (wie Kies), sondern auf fest verankerte, größere Steine. Sonst kommt man ins Rutschen und das kann übel ausgehen. Wie in Zeitlupe gehe ich sehr vorsichtig Schritt für Schritt und wünsche mir schon nach fünf Minuten einen Waldweg her. Gerne auch mit vielen knorrigen Wurzeln, aber dieser Weg ist sehr tückisch und vor allem ein Härtetest für Knie. Doch meine Stoßgebete werden nicht erhört. Bis fast ganz unten bleibt das so und entsprechend länger dauert die Tortour.

Wir haben das Gefühl, dass Bad Goisern überhaupt nicht näher kommt. Nach einer Stunde haben wir erst 1,5 km geschafft. Irgendwann nimmt das Gefälle ab und das unfallfreie Laufen wird einfacher. Mittlerweile ist es 17 Uhr und immer noch kommen uns Leute entgegen, die hochwollen zur Goisererhütte. Jedesmal denke ich: „Wenn ihr wüsstet, wie weit das noch ist!“ und bedauere alle zutiefst. Georg verkündet irgendwann, dass wir nun das erste Drittel des Abstiegs geschafft hätten. Ich bin schockiert, weil ich angenommen habe, dass das Hotel nun bald in Sichtweite sein müsste. Zu allem Überfluss werden wir jetzt auch noch von einem Schwarm Bremsen begleitet, die sehr interessiert an uns sind. Georg vollführt einen Abwehrtanz, der sehr an Schuhplattla erinnert. Mit Tuch und Shirt um uns schlagend, können wir sie einigermaßen von uns fernhalten. Nun müssen wir noch ein Tal und ein paar kleine idyllische Ortschaften durchqueren, bis Bad Goisern in Sicht kommt. Auf den ersten Blick eine sehr schöne Stadt.

Gegen 19 Uhr kommen wir endlich im Hotel an und werden mit wenig Worten empfangen. Ich finde das irgendwie unfreundlich, während Georg es gegenteilig empfindet. Schließlich kommen wir in einer Zeit an, als im Restaurant Hochbetrieb herrscht, da bleibt keine Zeit für Smalltalk. Jetzt unter die Dusche. Welch eine Wohltat! Ich fühle mich wieder als Mensch, allerdings mit Gummiknien. Nach dem Essen drehen wir eine Tagesabschlussrunde durch den Ort, denn wir hören Live-Musik und wollen mal schauen, was da los ist. Neben dem Pub steht eine Band und macht richtig Stimmung. Das Publikum ist begeistert.

Übrigens kommt auch Hubert von Goisern , ein Alpenrock-Liedermacher von hier, was der Name ja schon vermuten lässt.

Unser Stadtrundgang führt uns an der Verwaltung vorbei, wo u.a. die Fundsachen öffentlich bekanntgegeben werden, an der Bücherei mit sehr interessanter Geschichte und Öffnungszeiten und ebenso sparsamem Veranstaltungsangebot. Wir erfahren, dass hier die 2. öffentliche Volkschule Österreichs gegründet wurde, finanziert mit der Einführung einer Biersteuer und dass Bad Goisern Bücherstadt ist. Wir sollten mal eine Bildungsreise hierher machen! Die Stadt mutet fast ein bisschen mediterran an und wirkt auch im Dunkeln sehr gemütlich.

Nun bereiten wir uns auf die letzte Etappe vor, die vermutlich auch kein Spaziergang werden wird.

Dienstag, 15. August 2023 | Bad Goisern – Obertraun am Hallstätter See | 18 km | 650 Hm

Hatte ich gestern noch gehofft, dass sich meine Gummibeine über Nacht regenerieren, muss ich heute morgen feststellen, dass ich keine zwei Schritte ohne Ächzen und Stöhnen gehen kann. Als würden meine Beine nicht zu mir gehören. Nur mit großer Willensaufbietung schaffe ich es, würdevoll die Treppe zum Frühstücksraum runterzuschleichen. Wie soll das heute weitergehen? Georg gibt mir eine schnellwirkende Tablette, die tatsächlich Wunder wirkt. Noch besser geht es mir, als ich erfahre, dass die Umleitung des Wanderweges, die wir gestern schon bemerkt hatten, tatsächlich existiert und uns statt in die Berge am Ufer der Traun und später des Hallstätter Sees entlangführen wird. Also überwiegend bis auf den Weg über den Arikogel ohne Steigung. Länge: 16 km. Das hört sich doch gut an! Schlagartig sind alle Schmerzen verflogen. Durch die Instandsetzung des Soleleitungsweges verpassen wir zwar so einige letzte Sehenswürdigkeiten am Weg wie einen Wasserfall, den Soleweg selbst und grandiose Ausblicke, aber davon hatten wir ja reichlich in den letzten Tagen. Meine Stöcke lasse ich im Gebüsch liegen, wo ich sie gestern für den Notfall deponiert hatte. Ich werde sie nicht mehr brauchen. Wir wandern also raus aus der Stadt mit den schönen Häusern, an einem Kriegerdenkmal vorbei und einer Art Skalp, der über den Gartenzaun hängt. Die Traun ist schnell erreicht und wird uns jetzt ein Weilchen begleiten.

Da es wieder sehr heiß und schwül ist, sehen wir etliche Menschen, die baden und es sich am Ufer der Traun in Liegestühlen bequem gemacht haben. Das Beste, was man bei dem Wetter machen kann. Außer wandern natürlich! Wir folgen dem Fluss, es geht moderat ein bisschen auf und ab und teilweise an den Gleisen entlang. Das ist natürlich nicht sehr spektakulär, aber man hat nie alles Gute beieinander. Dafür gibt es hier freilaufende Kinder (siehe Warnschild).

Nun nähern wir uns dem Arikogel, eigentlich ein stattlicher Berg, aber im Vergleich zu denen der letzten Tage eher ein Hügelchen. Gut geeignet zum Abtrainieren, wie überhaupt die ganze Wanderung heute. Trotzdem geraten wir sehr ins Schwitzen, als wir ihm aufs Dach steigen. Uns kommt ein Waldschrat entgegen, der uns aufklärt, dass wir auf geschichtsträchtigem Boden wandeln. Hier lebten einst Kelten (wo eigentlich nicht?), die ihre Goldschätze im Berg vergruben. Niemand hat sie bisher geborgen. Wir haben aber auch keine Lust, jetzt danach zu suchen, bewundern aber wieder die Alpenveilchen, die überall in den Wäldern blühen und duften. An einer Stelle gibt der Wald die Sicht frei auf den Hallstätter See. Um den Berg ganz hinten links müssen wir noch rum, dort müsste Obertraun liegen.

Ist das Pille-Palle heute! Wir sind ja schon fast da! Naja, mehr als die Hälfte liegt noch vor uns, aber wir müssen nun bloß noch am Ufer des Sees bleiben. Eine Entdeckung und absolute Sehenswürdigkeit muss hier unbedingt noch gewürdigt werden: Der südlichste Apfelbaum der Gemeinde Goisern:

Auf einer Schattenbank machen wir Rast, denn es ist wirklich unerträglich heiß. Wir beobachten das Treiben auf und am See und könnten noch stundenlang zuschauen. Die Menschen sind so entspannt!

Alles findet irgendwie in Zeitlupe statt. Niemand hat es eilig und es liegt eine Stille in der Luft wie bei einer Yoga-Stunde. Am Ufer haben sich die Häusle-Besitzer gemütliche Sitz- und Liegeecken eingerichtet. Es ist die perfekte Kombination, um hier zu wohnen. Man hat den See direkt am Haus und genug Wald und Berge zum Wandern. Während wir das alles beobachten und unseren Gedanken und Träumen hinterherhängen, kommen wir Stück für Stück tropfend voran. Viel Schatten gibt es hier nämlich nicht. Nun müssen wir einen breiten Steg aus Metall passieren, der mit Gummimatten ausgelegt ist. Er zieht sich ein beträchtliches Stück um einen Felsvorsprung herum und ist darin verankert. Trotzdem schwankt er beim Laufen spürbar, besonders dann, wenn sich gleichzeitig Radfahrer darauf befinden. Man fühlt sich aber trotzdem sicher, den österreichischen Sicherheitsbestimmungen fest vertrauend.

Endlich kommt Obertraun in Sicht. Ich habe das Gefühl, dass es immer heißer wird. Als wanderten wir durch eine heiße Waschküche. Wir kommen am Bahnhof vorbei, von wo wir übermorgen die Heimreise antreten werden. Jetzt aber sind wir erst mal auf der Suche nach dem offiziellen Endpunkt des SalzAlpenSteiges, es gibt aber nichts Sichtbares. So war das auch schon zu Beginn in Prien am Chiemsee. Schade, denn es hat schon was, wenn man sich vor einer Zieleinfahrt stolz positionieren kann. Also machen wir ersatzweise Selfies auf einer SalzAlpenSteig-Bank und vor dem Eingang zum Feriendorf, wo wir die letzten zwei Tage verbringen werden.

Bei der Anmeldung erfahren wir, dass unser Reiseanbieter Kleins Wanderreisen ein Zimmer gebucht hat, das es wohl momentan gar nicht gibt. Deswegen bekommen wir ein ganzes Haus für uns allein. Drei Schlafzimmer, zwei davon mit eigenem Bad, einer eigenen Sauna, riesigem Wohnbereich und Terrasse. Das ist der absolute Luxus und krönender Abschluss der Wanderung. So ein Haus kostet normalerweise 460 € pro Tag.

Der Mann an der Rezeption will uns erklären, wo wir das Auto parken können und schaut uns ungläubig an, als wir ihm verkünden, dass wir zu Fuß hier sind. Kommt offenbar nur selten vor. Hier sind auch eher internationale Gäste, viele mit Kindern, die vermutlich nicht so verrückt sind wie wir. Trotz der vielen Menschen geht es erstaunlich ruhig zu, das verteilt sich alles sehr gut. Wir gehen noch einige Kleinigleiten einkaufen. Georg kocht uns ein leckeres Essen. Später trinken wir jeder ein Glas Bier, das es in Sektflaschen zu kaufen gibt und beobachten das Unwetter draußen, angekündigt als Gefahr für Leib und Leben. Aber so schlimm wirds dann doch nicht:

Mittwoch, 16. August 2023 | Obertraun und Hallstatt |

Wir beschließen, nach dem Frühstück die beiden Orte Obertraun und Hallstatt unter die Füße zu nehmen. Um von einem zum anderen zu gelangen, werden wir die Fähre in Anspruch nehmen. Immerhin gehört Hallstatt zum Unesco-Weltkulturerbe, das muss man sich anschauen, wenn man schon mal hier ist. Eigentlich wollten wir zum 5-Fingers-Ausguck, aber erstens hatten wir viele solcher Ausblicke auf unserer Wanderung und zweitens kostet das Ganze mit Seilbahnfahrt ca. 40 € pro Person. Aber auf den Fotos sieht das schon sehr spektakulär aus:

Wir steigen also auf die Fähre und setzen über auf die andere Seite nach Hallstatt. Von der Seeseite aus hat man nochmal einen ganz anderen Blick, auch der gestern beschriebene Steg ist in seiner vollen Länge gut sichtbar. Die Passagiere erhalten auf englisch und deutsch wichtige Informationen zum See und zu den Ortschaften Hallstatt und Obertraun. Der See ist an seiner tiefsten Stelle 125 m, das ist, glaube ich, ziemlich viel. Die Traun durchfließt ihn und wird hinter Obertraun wieder zum Fluss. Wegen des Fließgewässers friert der See im Winter nur sehr selten zu, so dass die Schifffahrt ganzjährig betrieben werden kann. Hallstatt war namensgebend für Ausgrabungen eines Gräberfeldes oberhalb des Ortes mit über 1000 Gräbern aus der Periode der älteren Eisenzeit. Ich erinnere mich dunkel, das mal in der Schule gelernt zu haben. Die Stadt schmiegt sich an den Berg, viel Platz zum Ausbreiten hat sie nicht. Wir erfahren auch, dass die evangelische Kirche nahe des Ufers erst Ende des 19. Jh. gebaut wurde und ein Bethaus ablöste. Die Evangelischen wurden vorher lange Zeit verfolgt.

Als wir aussteigen, merken wir schnell, dass wir im oberösterreichischen Disneyland gelandet sind. Mit Touristen rechnet man natürlich, schließlich sind wir selbst welche. Aber hier gibt sich die Welt die Klinke in die Hand. Ähnlich Neuschwanstein in Bayern. Der Ort hat ca. 730 Einwohner, aber hier rollen tausende Menschen durch die Gassen. An den Autokennzeichen erkennen wir Polen, Tschechen, Niederländer, Deutsche, Italiener. Es sind sehr viele Asiaten hier, verschleierte Frauen, Männer mit Kippa – die Vielfalt ist unerschöpflich. Natürlich haben sich die Läden dem Ansturm angepasst. Das gilt für das Angebot und die Preise. Nippes wie Armbänder, Glöckchen, Holzschnitzereien, Salz in unterschiedlichsten Geschmacksrichtungen und Anwendungsformen, Dirndl, Lederhosen usw. Wir flüchten die Treppen hoch, betrachten das Getümmel von oben und laufen einen Waldweg entlang. Er verbindet das Zentrum mit dem Ortsteil, in dem sich die Talstation der Seilbahn zum Rudolphs-Turm und weiter zum Salzbergwerk befindet. Das ist übrigens die Original-Strecke, die wir gestern ohne Umleitung hätten laufen müssen. Die Häuschen am Hang sind sehr liebevoll geschmückt und für den Betrachter nett anzusehen, aber dort zu wohnen ist bestimmt kein Vergnügen angesichts der neugierigen Menschenmassen.

Die beiden Kirchen schauen wir uns auch an. In der katholischen Kirche am Berg geht es natürlich wesentlich prunkvoller zu. Dort stehen gleich mehrere Altäre, die sehr aufwändig und kunstvoll gestaltet sind. Einer lässt sich dreifach ausklappen, das passiert aber nur zur Weihnachtszeit.

Eine Besonderheit ist der Friedhof. Da der Platz dort sehr begrenzt ist, werden die Gräber nach 15 Jahren Liegezeit geräumt. Früher wurden die Schädel zunächst gebleicht, dann beschriftet, bemalt und ins Beinhaus neben der Kirche gebracht. Zuletzt war das 1995 der Schädel einer Frau, die 1983 verstorben war. Da jetzt meistens Urnenbegräbnisse stattfinden, kommt das kaum noch vor.

Nun haben wir alles gesehen, glauben wir und machen uns wieder auf den Weg zum Schiff, denn wir wollen auch Obertraun noch auskundschaften. Eine kurze Kaffeepause in unserem Haus, dann gehts weiter. Vorbei am Bahnhof, bewegen wir uns auf das Ortszentrum zu und erleben das pure Kontrastprogramm. Hier ist fast kein Mensch, es gibt auch absolut nichts zu sehen außer dem örtlichen Supermarkt. Spaßeshalber schlendern wir da mal durch und sind beeindruckt von der minimalistischen Regalbefüllung. Vielleicht ist das eine Strategie, Ladenhüter unters Volk zu bringen. Sogar eine Souvenir-Ecke gibt es:

Wir kaufen Salat, Wurst und Brötchen und Georg bereitet daraus ein Abendessen, das den Vergleich mit einem Sternerestaurant nicht zu fürchten braucht.

Zwei Sehenswürdigkeiten haben wir in Obertraun aber doch noch entdeckt. Erstens einen sehr ungewöhnlichen Springbrunnen, in den man hineingehen und sich setzen kann, ohne nass zu werden (wenn es nicht windig ist):

Zweitens am Rathaus ein SalzAlpenSteig-Etappenschild:

Außerdem finden wir dort die Ankündigung eines heute stattfindenden kulturellen Highlights:

Da müssen wir hin! Nach dem Essen machen wir uns also nochmal auf den Weg zum See und tatsächlich – wir hören schon gleich hinter unserem Haus die getragenen Blasmusikklänge, die von den Bergen eingefangen und weitergeleitet werden. Die Musiker sitzen im Boot, werden ganz langsam hin- und hergefahren und spielen kurze, ruhige Volksweisen. Das passt wunderbar hierher und ist für uns wie ein Abschiedsgruß zum Ende unserer Wanderung. Geradezu perfekt!

Zurück in unserer Luxusvilla, packen wir schon mal das Wichtigste zusammen und lassen den Abend auf den beiden Sofas chillend ausklingen. Unser Zug fährt morgen erst mittags hier los. Wenn alles gut geht, sind wir exakt 12 Stunden später in Berlin. Ich muss zugeben, dass ich jetzt schon etwas melancholisch bin beim Rückblick auf diese außergewöhnliche, intensive Woche mit meinem Sohn. Die gemeinsame Zeit hat uns gutgetan. Wir haben uns gemeinsam durchgekämpft, geschwitzt, geredet, geschwiegen, gestaunt, gelacht, durchgeatmet, gegessen, genossen, dazugelernt. Manchmal waren wir auch genervt von uns oder vom Weg, aber das ging schnell vorbei. Wir sind stolz, das Ziel erreicht zu haben, denn es war nicht immer einfach. Alle Anstrengungen wurden aber stets mit einer grandiosen Naturkulisse belohnt. Allen, die gut zu Fuß sind, möchte ich diesen Fernwanderweg unbedingt ans Herz legen. Wer Probleme mit den Knien hat, sollte die Finger davon lassen. Die stundenlangen Abstiege über Felsen und Geröll werden sonst zur Tortour. Schwindelfreiheit ist klar von Vorteil.

Den ersten Abschnitt dieses Fernwanderweges von Prien am Chiemsee bis Schönau am Königsee bin ich letztes Jahr alleine gelaufen. Wer meine Eindrücke und Erlebnisse nachlesen möchte, findet HIER mein Wandertagebuch vom August 2022.

„Ich bin der Meinung, es würde vieles besser gehen, wenn wir mehr gingen.“

(Johann Gottfried Seume)

Nachtrag „Heimreise mit der Deutschen Bahn“

Unsere Heimfahrt lautete planmäßig folgendermaßen:

  • Obertraun ab 11:28 Uhr
  • Stainach-Irdning an 12:15 Uhr
  • Stainach-Irdning ab 13:38 Uhr
  • München an 17:41 Uhr
  • München ab 18:56 Uhr
  • Berlin an 23:36 Uhr

Diese Verbindung beinhaltete zwar längere Aufenthalte, aber besser so, als wenn man rennen muss. Schnell stellte sich heraus, dass diese Wartezeiten sogar gut waren, weil damit die Verspätung des EC nach München (ab Stainach-Irdning waren es schon 40 Minuten) aufgefangen werden konnte. Dachten wir. Der Zug fuhr also 14.20 Uhr dort los. Eigentlich wollte ich mir während der Wartezeit etwas zu essen und einen Kaffee kaufen, aber der Kiosk war die ganze Zeit wegen Mittagspause geschlossen. Nicht so schlimm, war meine Überlegung, ich habe ja in München trotz Verspätung noch 1/2 Stunde Zeit, mir etwas zu besorgen. Als Grund für die Verspätung wurde im DB-Navigator angegeben: „Verspätung im Ausland.“ Aha. Aber egal, Hauptsache, wir kamen nun rechtzeitig nach München. Dieser Wunsch rückte mit mehreren längeren Halts immer weiter in unerreichbare Ferne. Es gab 2x eine Lokvorbeifahrt, Lokwechsel, Grenzkontrollen, ein einspuriges Gleis mit Warten auf den Gegenzug, Bauarbeiten. Jede weitere Durchsage der Zugbegleitung ließ die Passagiere erst in erbostes Gemurmel, dann Kopfschütteln, dann irres Gelächter ausbrechen. Besonders erheiterte die Leute die Mitteilung, dass die Bahn aus Kulanz jedem kostenlos ein Wasser zur Verfügung stelle, das man sich im Wagen 10 abholen könne. „Der Mitarbeiter dort freut sich auf Sie!“ Georg machte sich auf den Weg, kam aber nur mit einem Päckchen Wasser zurück. Jeder eins – da war der Mitarbeiter konsequent. „Wir beantworten auch gerne Ihre Fragen!“, flötete es durch die Lautsprecher, doch dazu hätten die Fahrgäste die Mitarbeiterin suchen müssen. Sie ließ sich aus verständlichen Gründen nicht blicken. Nur einmal rauschte sie durch und stellte ihre Ohren auf Durchzug. Wie hätte sie auch den Unmut, die vielen Fragen und auch den Hass auf die DB auffangen sollen? Mit jedem weiteren Halt sahen wir auch die Möglichkeit entschwinden, in München den nächsten Zug um 19:56 Uhr zu erreichen. Wir hatten am Ende nicht mehr 40, sondern 150 Minuten Verspätung. Aber die Hoffnung flammte auf mit der Durchsage, dass der Zug nach Berlin warten würde. Wunderbar! Also schnell die Gleise gewechselt, der Zug stand auch noch da, aber Menschenmassen davor und nicht drin. Eine junge Frau klärte uns auf: „Wir dürfen nicht einsteigen. Der Zug fällt aus. Muss repariert werden.“ Fassungslosigkeit macht sich breit. Gibts denn sowas? Soviel Pannen auf einmal?

Etwas zeitverzögert informierte mich die Bahn in ca. 10 Mails, was ich gerade live erlebte. Hier die lustigste von allen:

Erstaunlicherweise wurde tatsächlich umgehend ein Ersatzzug auf dem Gleis gegenüber bereitgestellt. Also alle dort rein. Es fand auch jeder einen Sitzplatz. Aber der Zug fuhr nicht los. Ein sehr gut gelaunter Zugbegleiter machte eine Durchsage: „Sehr geehrte Fahrgäste, herzlich willkommen im ICE… (usw.) Leider können wir noch nicht losfahren, da wir noch auf die Unterlagen für diese Zugfahrt warten. Die Originalgarnitur war nicht fahrbereit, deswegen wurde diese Ersatzgarnitur bereitgestellt. Sobald die Unterlagen vorliegen, können wir losfahren. Sobald wir eine Prognose für die Abfahrt haben, können wir genauere Angaben machen. Und jetzt atmen wir alle mal gaaanz tief durch. Alles wird gut! Auch für die Fahrgäste, die nach Hamburg weiterreisen möchten, wird sich eine Lösung finden. Lassen Sie uns später darüber reden!“ Die Fahrgäste waren mittlerweile eine eingeschworene Schicksalsgemeinschaft und man tauschte sich selbstüberbietend aus über die bisher erlittenen Strapazen und andere Bahn-Erlebnisse.

Einige Zeit später wurde uns mitgeteilt, dass – wenn der Rechner freies Licht gibt, die Gastronomie geöffnet werden kann. „Bitte haben Sie noch etwas Geduld, in etwa 20 Minuten sollte die Küche für Sie startklar sein.“ Exakt 20 Minuten später: „Das Warten hat sich gelohnt. Kommen Sie im Wagen 10 vorbei. Bis gleich!“ Da vermutlich viele das gleiche Problem hatten wie ich, nämlich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und das Wasser mittlerweile ausgetrunken, machte sich Georg auf den Weg von unserem Wagen 4 bis zur geöffneten Küche. Bis er dort angekommen war, hatte sich eine Schlange bis Wagen 9 gebildet. Tapfer hielt er aus und kam ca. 45 Minuten später mit Verpflegung zurück.

Schließlich waren wir um 1 Uhr in Berlin-Hbf. Ich hatte Glück, erwischte den Nachtbus N5, der auf direktem Weg bis fast vor meine Haustür fuhr. So war ich dann nach 15 Stunden Reisezeit endlich zu Hause.