
Schon lange habe ich vor, mal die Alpen unter die Füße zu nehmen. Obwohl ich weiß, dass ich bergauf tempomäßig zur Schnecke mutiere, ist es mein sehnlichster Wunsch, mich die Berge hochzuquälen. Nun ist es soweit! Morgen beginnt die vermutlich anstrengenste Etappenwanderung, die ich jemals absolviert habe und absolvieren werde. Ich setze dem Ganzen noch die Krone auf, indem ich mich ganz allein auf die Socken mache. Puh, das wird spannend. Ehrlich gesagt, habe ich großen Respekt vor der Herausforderung, um nicht zu sagen, ein bisschen Angst vor den Höhenmetern. Wenn ihr mitleiden oder mitfiebern möchtet, lade ich euch ein, mich hier in meinem Blog auf der Wanderung zu begleiten. Sofern ich abends noch in der Lage bin, werde ich erzählen und zeigen, was ich erlebt und gesehen habe. Nun muss ich noch meinen Rucksack packen, eine Angelegenheit, die Stunden dauern kann. Am schwierigsten ist die Auswahl der Bücher. Obwohl ich gar nicht zum Lesen kommen werde. Aber Reisen ohne Bücher geht gar nicht! Während ich mich nun dieser Aufgabe widmen werde, könnt ihr ja schon mal HIER auf der SalzAlpenSteig-Webseite schauen, was mich erwartet. Ich wandere von Priem am Chiemsee bis Schönau am Königsee.

Montag, 01.08.2022, Anreisetag Berlin – Prien am Chiemsee
Die Wanderung hat noch gar nicht begonnen, und trotzdem habe ich viel erlebt. Der Tag beginnt damit, dass mein Wanderstock und meine Regenjacke sich wundern, wieso sie im Flur zurückbleiben müssen. Ich habe mich erst gewundert, als es zu spät ist, nämlich unten an der Haustür. Ich muss mich blitzartig entscheiden – Stock oder Zug? Das fällt nicht schwer, aber ich tröste mich damit, dass es vielleicht gut so ist, den Wanderstock zu Hause zu vergessen statt unterwegs. Und die Regenjacke scheine ich sowieso nicht zu brauchen. Also unnützes Gepäck. Am Bahnhof geht wieder das Rätselraten los, in welchem Gleisabschnitt der Wagen hält, in dem ich einen Platz gebucht habe. Aushänge gibts ja nicht mehr und meine DB-Navigator-App sagt mir: “Diese Verbindung konnte nicht aktualisiert werden.” Tröstlich ist, dass auch viele Fahrgäste suchend umherirren, sämtliche Schaukästen abklappern und nichts finden. Aber – oh Wunder der modernen Technik – ein Bahnmitarbeiter kann die Reihung auswendig aufsagen! Alle sind glücklich. Der Zug fährt bis Nürnberg sogar einigermaßen pünktlich. Man wird ja geradezu misstrauisch, wenn alles nach Plan läuft. Deswegen atmen alle auf, als eine Störung im Gleis angesagt wird, die eine Umleitung über Ingolstadt erforderlich macht. Das hat zwar 1,5 Std. Verspätung zur Folge, aber das ist vertrautes Terrain, damit kann man umgehen. Der Münchner Bahnhof ist kein Aushängeschild für die Stadt. Dreck und lange Wege erwarten den Reisenden. Zum Zug nach Salzburg waren 500 Meter von einem Gleis zum anderen zurückzulegen. Ganz schlecht, wenn man es eilig hat. Abgekämpft erreichen mit letzter Kraft ganze Völkerscharen den Regio, der so überfüllt ist, als führe er zur Ostsee. Vor mir sitzt eine Frau mit einem Buch in der Hand: Katja Oskamp – Marzahn Mon Amour. Marzahn im tiefsten Bayern! Neben mir steht eine junge Frau im Gang, deren ausuferndes Gesäß – in eine Leggins gepresst – in Höhe meines Kopfes immer näher kommt. aber ich widerstehe der Versuchung, mein müdes Haupt daran zu betten. Stattdessen arbeite ich mich zur Toilette vor. Als ich den Griff der Tür anfasse, erschallt laut eine Ansage durch den ganzen Zug: “Das WC ist besetzt. Bitte warten Sie, bis es wieder frei wird!” Alle Köpfe drehen sich synchron zu mir und starren mich an. Haben wir das also auch geklärt, Zimmermann muss aufs Klo.
In Prien angekommen, habe ich das Gefühl, aus dem Kühlschrank in die Sauna zu treten. Es ist unglaublich warm! Nun muss ich eine vom Reiseunternehmen vorgegebene Taxinummer anrufen, das mich nach Marquartstein bringt. Im Prien war wohl kein Zimmer zu finden. Deswegen fahre ich heute quasi zum Ende der 1. Etappe mit dem Taxi, werde morgen früh abgeholt und wieder zurück nach Prien gefahren, um von dort retour nach Marquartstein zu wandern. Ich habe dort also zwei Übernachtungen. Ich rufe an, es meldet sich ein AB. Hm. Ich schlendere zum Taxistand, berichte von meinem kleinen Problem und erfahre, dass es das Taxiunternehmen gar nicht mehr gibt. Aber egal, ich nehme einfach dieses Taxi. Unterwegs plausche ich mit dem Fahrer, der wissen möchte, woher ich komme. Oh oh, muss ich jetzt empört sein? Ich verrate es ihm aber gerne und er erzählt mir, dass er neulich zum ersten Mal durch Thüringen gefahren ist. “Halleluja! Do is ja nix! Nix! Nix! Nur Wald! Wenn emol a poar Häusle kamen, warn ma heilfroh, Zivilisation!” Interessant, wie der Thüringer Wald auf Fremde wirkt. Übrigens gibt es hier noch viele Kühe auf der Weide. Ich erfahre, dass die Landwirte von der bayrischen Behörde dafür finanziell belohnt werden. Die massive Anti-Milch-Kampagne in Berlin hats noch nicht bis hierher geschafft. Gott sei Dank! Der Taxifahrer schaut mich mit großen Augen an, als ich ihm die Argumente dahinter nenne, z.B. dass wir den Kälbern die Milch wegtrinken. “So a Schmarrn! Dann hob´n die koine Ahnung von Landwirtschaft!”



Nun habe ich mich eingerichtet im Hotelzimmer, bin schwitzend durch Marquartstein geschlendert, vorbei an der Pfarrei zum kostbaren Blut, habe die Wegweiser studiert und bei Edeka Sonnencreme gekauft. Nehme ich sonst nie, aber in den Bergen brennt die Sonne noch heftiger. Mein Abendessen im Hotel bestand aus einer Vorspeise (gefühlt 2 kg Tomaten) und einem leckeren Gin-Tonic-Gurke-Rosmarin-Getränk.


Jetzt ist es 20 Uhr. Ich werde mal schlafen gehen. Morgen stehen mir 23 km bevor.
Dienstag, 02.08.2022, Wessner-Hof in Marquartstein
Falls meine Zimmernachbarn ein gutes Gehör haben, werden sie denken, dass bei mir schreckliche Dinge passieren. Wenn man in der Dusche das Wasser aufdreht, entstehen Geräusche, als würde jemand fürchterliche Qualen erleiden. Zur Veranschaulichung habe ich das mal mitgeschnitten:
Es ist noch ein bisschen Zeit, bis mein Taxi kommt, um mich in Prien auszusetzen. Mal schauen, in welchem Zustand ich wieder hier ankomme. Nach einer langen Nacht (10 Stunden!) müsste ich ja vor Kraft nur so strotzen. Aber es sind jetzt um 8 Uhr schon 20 Grad draußen. Das Frühstück war einzigartig! Besonders schön: Jedes Zimmer hat seinen eigenen Tisch. Die Tische sind mit den Namen der Gäste gekennzeichnet. Ginge in Berlin GAR NICHT! DATENSCHUTZ! VERLETZUNG DER PRIVATSPHÄRE! Ich finde das total nett und gastfreundlich, man fühlt sich persönlich willkommen. Die Auswahl an Speisen war so umfangreich, frisch und echt bayrisch appetitlich, dass ich mir immer wieder in Erinnerung rufen muss, dass mein Magen nur begrenzt Platz hat.
Nun werde ich meine Wanderschuhe schnüren. Habe aber – falls die Hitze zu groß wird, noch Barfußschuhe eingepackt.



Wieder in Prien, suche ich zunächst verzweifelt den Beginn des Weges. Ich hatte mir so eine Art Start vorgestellt, aber der Weg beginnt unspektakulär am Bahnhof. Der nächste Orientierungspunkt ist laut Wanderführer die evangelische Kirche. Ich frage einen Einheimischen, der aber gar nicht weiß, dass es in Prien auch eine evangelische Kirche gibt, hier sind ja die Katholiken viel präsenter. Egal, die Richtung zum Chiemsee kann er mir zeigen und dass ich dazu zunächst die Unterführung passieren muss. So bin ich dann auch schon bald an diesem beeindruckenden Gewässer. Der Weg führt eine Weile dort entlang, aber meistens unter Bäumen, so dass die Sonne nicht so viel Angriffsfläche hat. Ab und zu bin ich unsicher, noch auf dem richtigen Weg zu sein, wenn die Markierungen lange nicht zu sehen waren, aber ich komme gut vorwärts auf sehr abwechslungsreichem Untergrund: Schotter, Gras, Teerstraße, Wurzeln, Steine.






Ein Abschnitt ist etwas anstrengender, da geht es 700 Höhenmeter hinauf. Ich schnaufe ganz schön, bin aber sogar schneller als ein Radfahrer, der absteigen musste, weil es ihm zu anstrengend war. Die Strecke führt überwiegend durch den Wald, parallel zu einem Bach und kleinen Wasserfällen. Dort fülle ich meine Wasserflasche wieder auf und trotte weiter bergauf. Immer wieder laden Rastplätze zu einer Pause ein.



An einer kleinen Kapelle mache ich eine Pause und kühle meine Füße im Brunnen. Es sind einige Leute unterwegs, aber eher Ausflügler aus den umliegenden Orten, keine Salzalpensteig-Wanderer. So komme ich Marquartstein Stück für Stück wieder näher und bin nach sechs Stunden am Ziel mit einer durchschnittlichen Laufgeschwindigkeit von 4 km pro Stunde. Das ist überaus zufriedenstellend! In dieser Zeit habe ich einen Podcast gehört, in dem Sabine Rückert letztes Jahr zu Gast war und mir unterwegs viele Notizen gemacht. Sie wird am 18. August zu Gast in der Bibliothek sein und ich fühle mich nun viel besser vorbereitet. Schon allein mit ihrer Lieblings-Weinsorte kann ich sie bestimmt überraschen!
Da es erst 16 Uhr ist, schaue ich mich noch ein bisschen um im Ort und entdecke gleich drei Bücherquellen: die Bibliothek mit 4 Wochenöffnungsstunden, eine Bücherzelle und eine überraschend große Buchhandlung. Und ich habe ausgekundschaftet, wo es morgen weitergeht, 1400 Höhenmeter bergauf. Das wird eine Herausforderung.


Wieder im Hotel, komme ich in den Genuss eines Drei-Gänge-Menüs, das heute allen serviert wird und eines fantastischen Sonnenuntergangs.
Mittwoch, 03. August 2022, von Marquartstein nach Bergen
Um 9 Uhr mache ich mich auf den Weg zur Etappe, vor der ich mich am meisten fürchte. Heute gehts hoch hinaus. Zunächst lerne ich unterwegs den ältesten und auch schönsten Teil von Marquartstein kennen mit wunderschönen Häusern.



Danach beginnt der Aufstieg. Zum Glück führt der Weg fast komplett durch den Wald, in dem es direkt angenehm kühl ist. Aber natürlich komme ich trotzdem ins Schwitzen, denn nun geht es ca. 2 Stunden bergauf. Mein Tuch – in Wasser getränkt – leistet mir um die Stirn gebunden gute Dienste.


In stetigem Schneckentempo winde ich mich den Berg empor und bin glücklich, als ich endlich vor der kleinen Schnappenkirche stehe. Deren Name ist Programm: Schnappatmung!



Auch, als ich den Ausblick sehe – unglaublich! Als würde man im Flugzeug sitzen. Die Sicht über den kompletten Chiemsee mit umliegenden Dörfern und Feldern ist fantastisch.



Nur kurze Zeit ist mir die absolute Ruhe vergönnt, dann kommt eine Berliner Familie mit leicht verletztem Kind. Es ist gestürzt und weint still vor sich hin, während sich der Vater erbost und lauthals darüber auslässt, wie denn das wohl möglich sein kann, wenn man vernünftig läuft. Am liebsten würde ich ihn zurechtweisen, aber oft fällt das dann noch schlimmer aufs Kind zurück. Also gehe ich weiter. In meinen Unterlagen steht, dass es jetzt nicht mehr anstrengend ist, nur noch ein leichtes Auf und Ab, zunächst Richtung Staudacher Alm. Ich entdecke einen Wegweiser “Staudach”. Das Wort “Alm” fehlt zwar, aber egal. Es geht ziemlich steil bergab, immer weiter und weiter, bis ich endlich stutzig werde. Staudach ist der Ort am Fuß der anderen Seite des Berges, dem ich schon sehr, sehr nahe bin. Einmal nicht richtig nachgedacht und schon hat man den Salat. Ich muss nun natürlich den ganzen Weg wieder hoch! Was solls. Einmal Aufstieg kann jeder, ich erklimme den Berg eben von beiden Seiten.


Jetzt kommt ein sehr schöner Abschnitt über Almwiesen mit gemächlich grasenden und ruhenden Kühen, die sich sofort auf den Betrachter überträgt. In allen drei Almen kann man einkehren, ich entscheide mich für die letzte – die Vorderalm mit unglaublich idyllischem Blick über Wiesen und Berggipfel.





Ich werde mit dem hier üblichen Gruß “Servus” willkommen geheißen und bestelle ein Schmalzbrot und ein Radler. Ein Genuss! So ein liebevoll hergerichtetes Schmalzbrot habe ich noch nie gegessen. Und alles geschieht hier in Ruhe. Selbst das Sprechen. Die Worte rollen weich und sanft aus den Mündern, ich könnte stundenlang zuhören, auch wenn ich nicht komplett alles verstehe. Man duzt sich ganz selbstverständlich und hat auch das Gefühl, schon immer hier gelebt zu haben. Berlin rückt selbst mental in weite Ferne mit einer diffusen Erinnerung an Lärm, Hektik, Arbeit, Gendern, Wokeness. Tangiert mich alles nicht mehr. Hinterher kugle ich mich vor Lachen bei der Vorstellung, ich hätte gesagt: “Grüß Gott, Servus, ich bin die Renate und mein Pronomen ist ´sie`!” Ich plaudere mit den Wirtsleuten über Gott und die Welt, über Landwirtschaft und das Leben auf der Alm und kann mich einfach nicht aufraffen, weiter zu gehen. Auf der Karte steht ein Getränk namens Russ´n und ich frage, was sich dahinter verbirgt. Das ist ein Radler aus Weizenbier und Zitronenlimonade. Probiere ich auch noch, dann wirds aber Zeit, im Hotel in Bergen anzurufen, um die Abholung am Wanderparkplatz im Tal zu vereinbaren. Von dort sind es nämlich nochmal ca. 5 km bis Bergen. Der Wirt (auch er spricht mit Akzent, hier ist die Gastronomie fest in osteuropäischer Hand) bedauert, mich nicht abholen zu können, da die Straße wegen Steinschlag gesperrt ist. Aber ich würde dann im Hotel ein kühles Bier bekommen. Tja, was bleibt mir übrig als zu laufen! Ich verabschiede mich von den Wirtsleuten, die mir noch mit auf den Weg geben, vorsichtig zu laufen. Es würde steil bergab gehen auf Geröll. Da kommt man leicht ins Rutschen. Stimmt, wie ich feststellen muss. Aber ich bin nicht hingefallen. Endlich unten angekommen, gehts dann noch mal 1,5 Stunden weiter bis zum Hotel. Dort krieche ich gefühlt auf allen Vieren durch die Tür, halte mich aber mit Würde auf den Beinen bis ins lila Hotelzimmer. Da sinke ich erschöpft aufs lila Bett, starre die lila Wand an und bewege mich auf dem lila Teppich mit Gummibeinen ins Bad zum Duschen, natürlich dekoriert mit lila Zahnputzbechern, Mülleimer und lila Handtüchern. Ui, da muss man tapfer sein!

Ich schaffe es auch noch zum Essen ins Lokal, aber mir ist irgendwie speiübel. War wohl doch etwas heftig, dieser Tag. Die kroatische Gulaschsuppe gibt mir den Rest – ich kann das viele Fett, das mich aus der Schüssel anstarrt, einfach nicht essen und bestelle stattdessen einen Slivowitz. Der Wirt setzt sich dann höchstpersönlich zu mir: “Was ist los?” Ich erkläre ihm, dass ich einfach total satt bin und den Rest der Suppe nicht schaffe. Er durchschaut mich aber und spendiert mir nicht nur das Bier, sondern das komplette Essen. Ich sehe noch nach, ab wann die Seilbahn morgen fährt, denn mit dieser gehts hinauf auf den Hochfelln und von dort zu Fuß nur bergab nach Ruhpolding. Das wird also morgen eine entspanntere Tour. Aber schön wars trotzdem heute. Berückend schöne Landschaft und nur nette Menschen!
Donnerstag, 04. August 2022, von Bergen über den Hochfelln nach Ruhpolding
Nach einem üppigen Frühstück, das mir ein ausgesprochen freundlicher Kellner serviert, schlendere ich zur Seilbahnstation, die sich direkt neben dem Hotel befindet. Es warten schon einige Gruppen auf die nächste Gondel, darunter mehrere Familien mit vielen Kindern. Am schlimmsten aber sind die Eltern. Jede Bewegung, jeder Stillstand, jede Geste, jedes Wort der lieben Kleinen wird wortreich kommentiert und diskutiert. Pausenlos texten Mama und Papa ihren Nachwuchs zu und nehmen den Kindern jeden Freiraum. “Luise schau mal… / Luise, lauf mal weiter… / Luise, bleib stehen.. / Luise, nicht stehen bleiben… / Luise, mach einen großen Schritt… / Fein, Luise… / Luise, nein! Nein, hat die Mama gesagt… / Luise, jetzt fahren wir…” usw. An der Mittelstation muss man umsteigen und ich hoffe, dass sich nun unsere Wege trennen, aber es passt gefühlt eine ganze Busladung in eine Gondel. Nun ja, es waren nur 20 Minuten und ich habs überstanden. Insgesamt sind viele Menschen unterwegs, aber das verläuft sich. Ich schreite den Rundweg ab, eine Art Lehrpfad über die Geologie, Klima, Flora und Fauna der Alpen. Wenn man sich vorstellt, dass die Berge durch die Kontinentalverschiebung über Millionen von Jahren aus dem Meer über die Oberfläche “gequetscht” wurden, sind sie noch beeindruckender und auch ein bisschen furcht- oder zumindest respekteinflößend. Die Sicht ist fantastisch und ich umrunde den Gipfel komplett. Auch von hier aus sieht man den Chiemsee.





Es sind einige Gleitschirm-Flieger hier oben und stürzen sich mit viel Gottvertrauen in die Tiefe, um dann lautlos um die Gipfel zu schweben. Das sieht sehr schön aus, aber niemals würde ich so etwas wagen. Es hätte für mich den Beigeschmack von Selbstmord. Ich bewundere die Sportler zutiefst! Zwei habe ich beim Starten gefilmt, ob und wie sie gelandet sind, weiß ich leider nicht.
Nach einer Radler-Pause (4,50 € die Flasche) ist es dann schon 12 Uhr und ich beginne den Abstieg. Am Wegweiser steht: Ruhpolding 4,5 Std. Nur bergab. Die ersten 3 km geht es ziemlich felsig in die Tiefe und ich muss mich sehr konzentrieren, wohin ich meine Füße setze. Ein falscher Schritt kann fatale Folgen haben. Man denkt in diesen Momenten an nichts anderes, sondern schaut sich die Steine genau an, bevor man drauftritt. Ab und zu wird man durch Wegweiser desillusioniert, weil dort immer noch 4,5 Std. steht.


So hangle ich mich von Stein zu Stein vorwärts, manchmal auch sitzend, wenn die Stufe zu hoch ist. Dann gehts kurz durch ein Wäldchen und ich lande auf einer Schotterstraße, die sich nun steil über 6 km ins Tal schlängelt. Unten höre ich die Weiße Achen rauschen. Ich habe das Gefühl, auf Glatteis zu laufen. Oder als hätte ich plötzlich Rollschuhe an den Füßen. Auch die besten Wanderschuhe helfen hier nicht, ich rutsche und schlittere auf dem Geröll und habe Müh und Not, das Gleichgewicht zu halten. Einzig Trippelschrittchen geben eine gewisse Trittsicherheit. Aber so über 6 km zu tippeln, ist unglaublich anstrengend. Wenn das Gefälle mal abnimmt, genieße ich es, große Schritte machen zu können. Endlich unten, sind meine Beine Wackelpudding. Und ich bin noch lange nicht in Ruhpolding! Ich schlurfe den Wegweisern folgend weiter, bin aber nicht mehr auf dem SalzAlpenSteig. Google Maps verweigert mir ohne Netz den Dienst, aber ich habe ja noch die analoge Variante – eine klassische Wanderkarte. Ich sehe, dass ich gar nicht so falsch gelaufen bin, aber die Sonne brennt so erbarmungslos, dass ich jetzt einfach keine Lust mehr habe. Ich übernachte heute nochmal in Bergen und hatte mit dem kroatischen Wirt einen Treffpunkt für die Abholung ausgemacht. Ich rufe ihn an und bitte ihn, mich da aufzugabeln, wo ich gerade kapituliert habe. Macht er auch. Auf der Rückfahrt (25 km!) kommen wir ins Gespräch über die Gastronomie. Er ist schon 30 Jahre im Geschäft und hat beobachtet, dass die deutschen Wirtshäuser fast alle nicht mehr existieren, weil die junge Generation nicht mehr ins Geschäft der Eltern / Großeltern einsteigt. “Nun haben wir Ausländer fast alle Gasthöfe übernommen.” Aber auch er sucht händeringend Personal. Wie überall.
Später mache ich einen Abendspaziergang in den Ort Bergen. Ganz nett. Sogar mit Kurpark. Vor dem Rathaus steht eine Infotafel, auf der alle Orte namens Bergen aufgeführt sind. Im Jahr 2015 gab es hier nämlich mal ein Bergen-Treffen:

Zurück im Hotel, bestelle ich Käsespätzle, doch wieder esse ich nicht auf. Kasse macht nur der Chef. Er sitzt meist im Biergarten, hält ein Schwätzchen mit den Leuten und wenn jemand bezahlen will, wird er gerufen. Mit der Rechnung bekomme ich von ihm ungefragt wieder einen Slivowitz serviert: “Für die Anstrengung heute!” Prost!
05. August 2022, Ruhpolding nach Inzell
Anscheinend ist die kroatische Küche nicht auf meinen Magen ausgerichtet. Heute gibt es wie gestern zum Frühstück Rührei. Dagegen ist natürlich nichts einzuwenden, aber erstens hätte das für mindestens vier Personen gereicht und zweitens war es wieder so fettig, dass es auf dem Teller und auch in meinem Mund hin- und herflutschte. Bäh… Aber ich will nicht undankbar sein. Letztendlich war schon alles ok. Wieder steige ich in den Transporter des Chefs und lasse mich zum Startpunkt der heutigen Wanderung ins Zentrum von Ruhpolding fahren. Das Rathaus ist eine Augenweide, ich kann mich an den vielen Details gar nicht sattsehen:

An der Hauswand steht folgender Sinnspruch:

In der Tourist-Info lasse ich mir den Weg weisen und bekomme einen Stadtplan, der sehr hilfreich ist, ohne Umwege aus der Stadt herauszulaufen. Daneben entdecke ich ein “Ratschbankerl”, also eine Bank, auf der man mich anderen ins Gespräch kommen soll: “Setzen Sie sich hierhin, wenn Sie nichts dagegen haben, dass jemand vorbeikommt und Servus sagt. Kommen Sie ins Gespräch, wann und solange Sie möchten.” Finde ich schön, die Idee.

Es geht zunächst sehr lange an der Weißen Traun entlang, ein Gewässer, dass den Namen Fluss nicht mehr verdient. Auch hier merkt man den Wassermangel sehr deutlich. Bis zum Taubenteich verläuft der Weg ohne nennenswerte Steigungen, und trotzdem tropfe ich still vor mich hin. Es ist heute außerordentlich schwül. Am Teich angekommen, bin ich entsetzt. Er ist so gut wie ausgetrocknet. Die Lage ist wirklich dramatisch, es müsste unbedingt regnen, vermutlich monatelang, um die Speicherbecken wieder aufzufüllen.


Die Fische tummeln sich in der verbliebenen Pfütze und springen unentwegt in die Luft, man könnte sie vermutlich mit der Hand fangen. Ich lege hier eine Pause ein, weil ich weiß, dass mir nun ein 8 km langer Aufstieg bevorsteht. Ehrlich gesagt, kam der mir genauso anstrengend vor wie der zur Schnappenkirche. Es ging wieder über Geröll und Wurzeln steil bergauf.



Besonders ärgerlich ist die mangel- und fehlerhafte Beschilderung auf dem SalzAlpenSteig. Das sei an dieser Stelle mal kritisch angemerkt, weil ich heute wieder mehrmals davon betroffen war. Der Weg ist nicht konsequent gekennzeichnet. Manchmal läuft man nur auf Verdacht, die Schilder am Wegesrand weisen in alle möglichen Richtungen, aber nicht in die von mir benötigten. Das heißt nicht, dass ich falsch gelaufen bin. Nein, die Infos werden bloß einfach an manchen Stellen unterschlagen. Oder die Schilder weisen mit der Rückseite zum Weg, so dass man erst den Pfahl umrunden muss, um sie lesen zu können. Sehr demotivierend ist es, wenn als Gehzeit z.B. 25 Minuten ausgewiesen ist und auf dem nächsten Schild, das man nach ca. 15 Minuten erreicht, immer noch 25 Minuten steht. Manchmal erhöht sich die Zeitangabe sogar und man hat das Gefühl, den nächsten Punkt auf der Strecke niemals zu erreichen, weil er dann zu allem Überfluss ein paar Kilometer lang nicht mehr erwähnt wird. Plötzlich steht er dann wieder da. Also das ist alles sehr inkonsequent und auf jeden Fall optimierungsfähig. Die Beschreibungen im Kompass-Wanderführer sind ebenfalls nicht verlässlich. Einzig die Karten und Google Maps – sofern nutzbar – sprechen eine klare Sprache. So bin ich auch ewig auf der Suche nach der Fahrriesbodenkapelle und schließlich sicher, dass ich vorbeigelaufen bin. Plötzlich lugt sie aus dem Gebüsch hervor. Ein unscheinbares Kirchlein, das auch meinen Talisman, den Golem, nicht sonderlich beeindruckt. Dafür habe ich mich nun so lange den Berg hochgequält?


Nun ist es nicht mehr weit nach Inzell, dem heutigen Etappenziel. Es geht nochmal ziemlich steinig und holprig bergab, dann sehe ich auch schon die ersten Häuser von Inzell.


Der Weg in den Ort zieht sich hin, ich bin noch ca. 30 Minuten unterwegs durch Felder und Wiesen, bis ich am Hotel ankomme.


Obwohl die Etappe nur 15 km lang war mit 500 Höhenmetern, bin ich so froh, endlich angekommen zu sein. Bilanz: Es gab nichts zu sehen, was sonderlich beeindruckend war. Mein Zimmer im Gasthof Vroni ist aber urig und sogar mit Balkon. Abends regnet es und die Wetter-App verspricht für morgen nichts Gutes. Jedenfalls nicht für mich, für die Natur schon. Nun brauche ich wohl doch eine Regenjacke und muss morgen vor dem Start noch das örtliche Sportgeschäft bereichern. Es erwarten mich 23 km Weg, 572 Höhenmeter Aufstieg und 794 Abstieg.
06. August 2022, Inzell nach Bad Reichenhall
Bis zuletzt bin ich sehr unschlüssig, ob ich mir nun noch eine Regenjacke kaufen soll oder nicht. Ich müsste dazu in den Ort hinein und würde Zeit verlieren. Aber andererseits macht das Laufen keinen Spaß, wenn man durchnässt ist. Die Sonne scheint sogar ein bisschen, aber die Prognosen lauten: hin und wieder leichter Sprühregen. Die Entscheidung nehmen mir die Öffnungszeiten des Ladens ab: ab 10 Uhr. Das würde mich bei der heutigen langen Etappe um einiges zurückwerfen. Also laufe ich in Gottvertrauen los, das kann man ja hier in Bayern mal ausprobieren. Ich komme an einer beeindruckenden Eissporthalle vorbei, eventuell werden ja hier auch internationale Wettkämpfe ausgetragen. Über allem thronen die dampfenden Wälder.


Gleich auf den ersten Kilometern biege ich falsch ab und lande genau da, wo ich gestern angekommen bin, habe quasi Inzell großzügig umrundet. Natürlich bin ich da auch selbst ein bisschen schuld, aber die merkwürdig inkonsequente Ausschilderung hat auch ihren Teil dazu beigetragen. Ich würde am liebsten wie Rumpelstilzchen mit dem Fuß aufstampfen und laut schimpfen, denn ich habe dadurch die Strecke um 4 km verlängert. Bestätigt fühle ich mich ein wenig später durch ein ratlos vor den Wegweisern stehendem Paar, das ebenfalls einen Abschnitt doppelt gelaufen ist und immer noch nicht so richtig den Fehler gefunden hat. Sie bemängeln ebenfalls die Markierung – und sie sind zu zweit! Das tröstet mich ein bisschen. Nun führt mich der Weg ziemlich lange am Weißbach entlang. Da kann man nicht viel falsch machen. Ab und zu muss ich ihn hin und her überqueren. Auch hier ist nicht mehr viel Wasser drin.









Aber den Wasserfall gibt es noch. Das Rauschen des Wassers begleitet mich nun ein Weilchen. Noch regnet es nicht so doll, es pieselt aber ein feiner Sprühregen auf mich hinab, der sich später noch etwas verstärkt. Egal, ich bin ja nicht aus Zucker. Meine Jacke ziehe ich aus und verstaue sie im Rucksack, damit ich später was Warmes und Trockenes zum Überziehen habe. Es ist zwar deutlich kühler als in den vergangenen Tagen, fast 20 Grad weniger, aber trotzdem ist das nicht nur Regenwasser, was mein Gesicht hinabrinnt. Mir ist unglaublich warm, das liegt auch an dem Tempo, das ich zulege, solange es keine nennenswerten Steigungen gibt. So geht es weiter bis zur Weißbachschlucht, dort verlasse ich den Fluss und steige hoch zur Höllenbachalm.




Ich wundere mich, dass es so herrlich duftet und entdecke als Ursache einen Alpenveilchen-Teppich. Erst jetzt wird mir der Name dieser Blume so richtig bewusst. Hier kommen sie offensichtlich her! So trabe ich tropfend immer weiter hoch, bis ein großes Gebäude in Sicht kommt – die Alm. Stall und Wirtschaft unter einem Dach. Sehr originell finde ich das Waschbecken, das dem Wanderer die Möglichkeit bietet, sich zu erfrischen. Mit Fußpedal. Auf der Terrasse haben sich schon viele unter großen Schirmen versammelt, um eine Rast einzulegen. Ich bestelle einen Becker Milch und Leberkäse. Herrlich! Genussvoll verzehre ich meine Brotzeit, lausche dem Läuten der Kuhglocken und lerne nebenbei ein bisschen Bayrisch.




Nun gehts nur noch bergab, denke ich. In meinem Wanderführer steht: “Nach einer wohlverdienten Rast geht es über den Höllenbachsteig bergab mit vielen tollen Aussichtspunkten zum Thumsee.” Dass es aber nach der Alm mindestens noch eine halbe Stunde steil bergauf geht, steht da nicht. Doch endlich kommt der Scheitelpunkt und ich steige hinab in einen Zauberwald. Der Nebel erzeugt eine märchenhafte Atmosphäre. Und auch der Weg ist so urig, dass ich gar nicht mehr aufhören kann mit fotografieren. Die Aussicht ist zwar gleich Null, aber das stört überhaupt nicht. Man hat mit dem Genießen der näheren Umgebung schon genug für Auge und Seele.






Unten angekommen, taucht auch der Thumsee aus dem Nebel auf.


Die letzten Kilometer gehts wieder durch herrlichen Buchenwald. Mittlerweile bin ich zwar ziemlich durchweicht, aber es stört mich nicht, weil es immer noch warm genug ist. Der Weg ist geschmückt mit kleinen architektonischen Kunstwerken aus Naturmaterialien. Man steht als Betrachter davor und ist entzückt. Da haben sich (vermutlich Kinder) so richtig viel Mühe gegeben.




Bad Reichenhall nähert sich und empfängt mich mit Autobahnkreuz, breiten Einfallstraßen und viel Verkehr. Ich arbeite mich mit Hilfe der Ansagen von Google Maps zum Hotel vor, dem Brauhaus-Gasthof und sehe dadurch doch noch ein Stück von der Altstadt.



Hotel und Gasthaus sind auf Massenbetrieb ausgerichtet, aber alles funktioniert wie am Schnürchen. Mein Zimmer ist sehr großzügig und geht direkt zum Markt raus. Natürlich gehe ich am Abend auch hier essen. Am Eingang sitzt ein Platzanweiser, der alles im Blick hat. Ich bekomme einen urgemütlichen kleinen Tisch zugewiesen direkt gegenüber vom Tresen. So kann ich das emsige Treiben gut beobachten und habe größten Respekt vor dem Bedienpersonal. Die flitzen nur hin und her, aber trotzdem in Ruhe und perfekt organisiert. Hier greift ein Rädchen ins andere. Das Bier schmeckt übrigens hervorragend und zur Verdauung genehmige ich mir einen Bierbrand. Prost und Gute Nacht!


07. August 2022, Bad Reichenhall nach Bischofswiesen
Der Blick aus dem Fenster verlockt nicht unbedingt zum Wandern. Die Sonne scheint sich auch heute rar zu machen und es ist unklar, ob es wieder regnen wird. Aber kneifen gilt nicht. Außerdem gibt es schließlich kein schlechtes Wetter, nur unangemessene Kleidung.

Das trifft allerdings auf mich zu, denn ich habe schließlich immer noch keine Regenjacke und auch keine Aussicht darauf. Heute ist Sonntag. Aber es wird schon gutgehen. Nun muss ich zunächst aus Bad Reichenhall rausfinden auf den SalzAlpenSteig. Dazu suche ich mir einen markanten Punkt, den Wanderparkplatz, lasse mich von Maps dorthin führen und fühle mich ganz schlau, weil ich dadurch einen Bogen abgekürzt habe. Leider scheint sich damit meine Intelligenz für heute erschöpft zu haben, denn ich schlage die falsche Richtung ein, laufe also nach Bad Reichenhall zurück. Noch weiß ich das aber nicht und erfreue mich an wunderschönen Ausblicken auf Wälder, Berge und Stadt, bestaune die Burg, klettere dann steil bergauf, schnaufe, stöhne und bin froh, dass mich niemand hört und sieht.





Nach dem beschwerlichen Aufstieg wartet ein herrlicher Ausblick auf Bad Reichenhall auf mich. Leider macht mich das immer noch nicht stutzig und ich folge dem Zeichen der stilisierten Berge weiterhin treu und brav. Der Weg führt wieder abwärts, immer weiter ins Tal.

Erst ein Wegweiser mit dem Hinweis, dass der SalzAlpenSteig hier nach Bad Reichenhall führt, stoppt mich. Hä? Wie kann das sein? Ich ziehe alles zu Rate, was mir zur Verfügung steht und verstehe die Welt nicht mehr. Zwei Frauen, die mich überholen, geben mir den Rat, wieder umzukehren. “Da müssns wieder nauf zum Bankerl und von dort links runter.” “Aber da komme ich doch gerade her!”, rufe ich verzweifelt aus. Sie trösten mich, dass es gar nicht so weit sei. Ich weiß es besser, denn ich bin das Stück ja gerade gelaufen. Doch es hilft kein Lamentieren, es bleibt mir nichts anderes übrig, als zurückzulaufen oder besser zu schleichen. Erst unten wird mir klar, dass ich am Wanderparkplatz die andere Richtung hätte einschlagen müssen. Das habe ich nun von meiner Abkürzung. Betrug wird sofort bestraft!
Der nun richtige Weg führt durch eine saftig grüne Landschaft und Felder von Wiesenschachtelhalm, gibt ab und zu den Blick frei auf Felsen und dampfende Wälder, aber auch auf ein ausgetrocknetes Flussbett.



So bin ich noch ca. 3 Stunden unterwegs in stetigem Auf und Ab und komme zu einer idyllischen Stelle, an der ich den Steig verlassen muss.

Bischofswiesen liegt nämlich ein paar Kilometer abseits. In meinen Unterlagen wird mir der Bus empfohlen, um dorthin zu gelangen, der allerdings nur 1x pro Stunde fährt. Aber ich habe jetzt auch mal Glück und muss nur 5 Minuten warten, bis der Bus um die Ecke kommt. Die Haltestelle, an der ich laut Beschreibung aussteigen muss, gibt es allerdings gar nicht, weswegen ich im Zentrum von Bischofswiesen aussteige und auch damit einen Volltreffer lande. Von hier aus ist es nur noch ein Katzensprung zum Hotel.


Ich werde herzlich empfangen und bekomme ein sehr schönes Zimmer mit Balkon zugewiesen.

Heute ist hier Ruhetag und ich müsste noch mal los, um woanders essen zu gehen. Habe aber keine Lust, plündere dafür die Minibar und mache es mir im Bett gemütlich mit hochgelagerten Beinen. Habe ganz wabbelige Knie. Vielleicht sollte ich mir doch abgewöhnen, Berge zweimal hintereinander zu erklimmen. Denn das waren heute statt 600 Höhenmeter ungefähr 1000. Morgen muss ich zurück zu der Stelle, an der ich den Steig verlassen habe, wieder mit dem Bus, der um 8:30 Uhr hier abfährt. Also dann – ab ins Bett! Ich werde hier übrigens wieder zwei Nächte verbringen. Wenn ich morgen das Etappenziel erreicht habe, soll ich mir auf Kosten des Hotels ein Taxi rufen. So mache ich das.
08. August 2022, Bischofswiesen nach Ramsau
Wo fange ich an? Dieser Tag war in mehrerer Hinsicht ungewöhnlich, außerordentlich und intensiv, eher gefühlt als real zu benennen. Ich sitze jetzt auf dem Balkon meines Naturhotel-Zimmers mit Blick auf die Berge und ein erster Anflug von Sentimentalität ergreift Besitz von mir.

Morgen ist mein letzter Wandertag, dann schließen sich noch zwei Tage in Schönau am Königsee an, bevor ich die Fahrt nach Berlin antrete. Es wird mir schwerfallen, tut es jetzt schon. Die heutige Etappe war eher ein Spaziergang mit genug Spielraum zum Nachdenken, Genießen, Schauen, Staunen, Teil werden dieser majestätischen Landschaft, die uns Menschen nicht braucht. Wir nehmen uns so wichtig, schaffen elitäre Probleme, führen Kriege. Das ist alles so lächerlich angesichts dessen, was wir wirklich zum Leben benötigen – Respekt und Demut gegenüber der Natur. Sie sitzt eindeutig am längeren Hebel und ihr ist Gendern sowas von egal! Sie dreht uns gerade den Wasserhahn zu, aber für Verbraucher*innen ist das wohl leichter zu ertragen als für Verbraucher. Aber ich schweife ab.
Los gehts heute morgen mit dem Bus – zurück zu der Stelle, an der ich gestern den Wanderweg verlassen hatte, mit dicken Knien. Die hatten sich zwar über Nacht einigermaßen erholt, aber vorsorglich fahre ich alles auf, was meine Reiseapotheke so hergibt: Schmerzsalbe, Elastikbinde ums linke, Bandage ums rechte Knie. Ich bin zu früh an der Haltestelle und inspiziere die nähere Umgebung. Dabei fällt mir eine Art Altar für Kriegsgefallene auf, dessen Symbolik ich als sehr unchristlich empfinde. Der Spruch stammt aus der Offenbarung des Johannes und bezieht sich auf die Treue zum christlichen Glauben. Hier aber schwingt auch die Treue zum Kriegsherrn mit, von Gott abgesegnet.

Doch dann kommt der Bus und meine Gedanken wenden sich dem heutigen Weg zu. Wie anstrengend wird es werden? Ich bin ziemlich zeitig unterwegs, es ist noch nicht mal 9 Uhr, als ich die 7. Etappe beginne. Wieder passiere ich einen ausgetrockneten Fluss und schon bald geht es bergauf, der Mordaualm in 1207 m Höhe entgegen. Der Aufstieg wird mit 2,5 Std. bemessen und zu meiner Ehrenrettung muss ich jetzt auch mal erwähnen, dass dieses Zeitmaß fast immer auf mein Schritttempo zutrifft. Es ist noch bewölkt und um diese Zeit fast herbstlich, aber trotzdem werfe ich schon bald die Jacke von mir. Die nächste Bank ist meine, Puls und Atemfrequenz müssen runterreguliert werden. Ich bewundere das Naturschauspiel der Wolken in den Bergspitzen und mache ein paar Selfies, als plötzlich ein deutlich älterer Mann die Bank ansteuert. Sehr peinlich, wie er mich so posierend erwischt.



Ich tue so, als wäre das ganz normal und versuche mich in Smalltalk, aber der Herr ist sehr wortkarg. Grund genug, weiter zu laufen, denn gemeinsam wollen wir wohl beide nicht weiterwandern. Also winde ich mich Schritt für Schritt weiter nach oben, auf einem besonders kniffligen Abschnitt unter Einsatz meiner Hände. Ein kleiner Wasserfall täuscht Normalität vor.



Irgendwann würde ich am liebsten wieder eine Pause einlegen, doch da sehe ich den alten Herrn gefährlich näher kommen. Auf keinen Fall darf er mich überholen! Wie frustrierend wäre das denn! So schlurfe ich also weiter und habe auch bald die Alm erreicht. Eigentlich sind es sogar drei. Jede Hütte ist bewirtschaftet und lädt ein zum Einkehren. Am Wegrand sind Infotafeln aufgestellt, die sehr deutlich machen, dass das Leben auf der Alm nicht so romantisch ist, wie man sich das vielleicht vorstellt. Der Arbeitstag geht von 4 Uhr bis ca. 20 Uhr und beinhaltet 2x Kühe melken, die Milch verarbeiten, die Produkte ins Tal schaffen, Weidezäune kontrollieren und reparieren, Gäste bedienen u.v.m. Bevor ich einkehre, erklimme ich den höchsten Punkt und genieße die Aussicht, die fast absolute Stille und das Alleinsein.


Nun gönne ich mir einen Becher Buttermilch und ein Schmalzbrot. Es gibt nichts besseres! Aber ich friere, hier oben sind die Temperaturen deutlich niedriger. Da hilft nur Bewegung. Da die heutige Etappe recht kurz ist (15 km), lasse ich mir Zeit und schlendere geradezu in Zeitlupe dem Tal entgegen, quasi von Bank zu Bank und kann mich einfach nicht sattsehen.


Diese Landschaft bringt in mir Saiten zum Schwingen, die mich ziemlich aufwühlen. Mir fällt dabei ein, dass ich schon als Kind eine tiefe Sehnsucht nach den Alpen hatte. Natürlich damals unerfüllbar. Kurz nach der Wende stand ich auf dem Obersalzberg und habe geheult, das weiß ich noch. Irgendwas verbindet mich mit dieser Gegend. Der Name Renate bedeutet “Die Wiedergeborene”, vielleicht habe ich hier in meinem ersten Leben gewohnt. Wer weiß das schon…
Auffällig sind die vielen verschiedenen Blumen am Wegesrand, dank Google Lens leicht zu bestimmen: Augentrost, Wasserdost, Klebriger Salbei, Wolldistel, Bunter Hohlzahn.


Es kommt auch zu sehr körpernahen Begegnungen mit Kühen, die übrigens nicht den Eindruck machen, als würden sie gequält. Sie haben auch absoluten Vorrang auf den Straßen. Die Autofahrer müssen warten, bis Lotte sich bequemt, weiterzulaufen.





Eine Frau bemerkt meine Verunsicherung, als ich überlege, wer nun wohl Vorfahrt auf dem Weg hat: “Die sans fai naigierig, gell?” Überhaupt sind alle Spaziergänger und Wanderer einander sehr zugewandt. Man grüßt sich immer, ich bin mir bloß nicht sicher, welcher Gruß gerade passend ist: Griaß Gott, Griaß di oder Servus. Deswegen sage ich meistens Hallo. Alles andere wäre ja auch kulturelle Aneignung. Eine andere spricht mich an: “Bissvondo?” Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich verstehe: “Bist du von hier?” Es gibt hier aber auch seltsame Menschen. Ein Radfahrer schimpft vor sich hin, schon von weitem hörbar. Auf meiner Höhe fallen die Worte: “Dos san Volksschädlinge!” So nähere ich mich auf fast unwirklich schönen Wegen unaufhaltsam immer weiter dem Etappenziel – dem Zipfhäusl.






Mittlerweile hat es die Sonne geschafft, die Wolken zur Seite zu schieben und ich gönne mir auf der Aussichtsterrasse eine Kugel Eis und einen Kaffee.

Da in Ramsau kein Hotelzimmer gefunden wurde, bin ich zwei Nächte in Bischofswiesen und darf mir auf Kosten des Reiseunternehmens ein Taxi rufen, das mich zurückbringt und morgen früh wieder dorthin. Kostet stolze 42 €. Ich lasse den Abend im Liegestuhl ausklingen und lese tatsächlich zum ersten Mal seit einer Woche wieder ein paar Zeilen. Und wie es der Zufall so will, springt mich eine Kapitelüberschrift und Frage an, die passgenau auf die heutige Aufruhr meiner Gefühle zugeschnitten ist:

Das war mit Abstand der entspannteste Tag auf meiner Wanderung!
09.08.2022, Ramsau nach Schönau am Königsee
Wie eine Gräfin lasse ich mich heute morgen um 8:30 Uhr mit dem Taxi abholen und zum Zipfhäusl fahren – das Ausflugsrestaurant, wo die gestrige Etappe endete. Der Fahrer wurde praktischerweise vom Hotel beauftragt, mein Gepäck gleich mitzunehmen und zum Hotel in Schönau zu bringen. Ganz entspannt starte ich in die 8. Etappe und bin entzückt – sie führt mich auf der Fortsetzung des Höhenweges weiter, dem ich gestern bis hierher gefolgt bin. Man kann ins Tal blicken auf die Gehöfte, Felder, Wiesen und sie verbindende Straßen, umrahmt von den Felsmassiven, die sich dahinter auftürmen. Auch Landschaftsmaler haben sich davon inspirieren lassen.











Doch nicht nur Menschen fühlen sich hier wohl. Aus verdächtiger Nähe höre ich Kuhglocken läuten und kurz darauf machen mir ihre Träger sehr deutlich, dass der Weg nicht nur mir gehört:
Die Ausschilderung im weiteren Abschnitt durch Engedey ist – sagen wir mal intuitiv. Hier sind etwa 30 Handwerks- und Handelsbetriebe angesiedelt und man muss sich zwischen Landmaschinen und Autowerkstätten über deren Höfe hindurchmanövrieren. Ich vertraue darauf, dass der einzige Weg, der dahinter in den Wald führt, der richtige sein muss. Kurz darauf treffe ich eine Wanderin, die gerade eine Pause macht und frage sie, ob das der SalzAlpenSteig ist. Sie bejaht und freut sich, endlich mal jemanden zu treffen, der auch die Tour macht. Es sind zwar viele Menschen unterwegs, aber nur wenige laufen diese Strecke. Sie bestätigt meine Kritik der mangelhaften Beschilderung und orientiert sich mittels Smartphone. Das mache ich nur, wenn ich total ratlos bin, denn oft habe ich sowieso kein Netz. Ab jetzt beginnt die härteste Herausforderung der gesamten Strecke, allerdings bin ich zu diesem Zeitpunkt noch ahnungslos und einigermaßen optimistisch. In der Beschreibung steht: “Auf Forststraßen und Waldpfaden geht es in Serpentinen bergauf bis zur Grünsteinhütte, von wo aus wir abermals einen großartigen Ausblick auf das Berchtesgadener Land haben. An den „Weißen Wand“ entlang, wandern wir ins Tal hinunter und erreichen nach dieser abwechslungsreichen Wanderung Schönau und den weltbekannten Königssee.” Der Schwierigkeitsgrad wird mit 2 von 5 eingestuft. Es gilt also nun, auf den Grünstein hochzukrauchen und von dort auf der anderen Seite wieder runter. Zur Motivation wurden alle 100 Höhenmeter Schilder aufgestellt, damit man weiß, was man schon geschafft hat.







Bei mir hat das die gegenteilige Wirkung. Mir wird damit hämisch unter die Nase gerieben: “Wenn du denkst, dass du gleich oben bist, hast du dich geirrt!” Es ist unglaublich steil und man muss oft richtig Schwung nehmen, um die nächste Stufe hochzukommen.



Auch ein Waldgeist macht sich über mich lustig:

Ab und zu gibts mal eine Bank, aber dann dauert der Aufstieg ja noch länger. Ich bin so froh, als endlich die Grünsteinhütte in Sicht kommt, aber dort tummeln sich so viele Menschen, dass ich lieber weitergehe. Nun sind es noch 100 Höhenmeter und schließlich bin ich oben. Puh! Was sich nun meinem Auge bietet, ist der Wahnsinn.






Man kann über das Gebirgsmassiv hinwegblicken bis in die österreichischen Alpen, der Watzmann liegt direkt gegenüber und unten sieht man Schönau und den Königssee. Über einem Felsvorsprung tauchen plötzlich Köpfe auf, das sind Kletterer, die den direkten Weg nach oben genommen haben. Allein der Gedanke löst bei mir schon Bauchgrummeln aus. Nachdem ich genug gestaunt habe, mache ich mich auf den Weg zum Abstieg nach Schönau. Kann ja nun nicht mehr so schlimm sein, denke ich und werde ganz schnell eines Besseren belehrt. So einen steilen Hang bin ich in meiner Wander”karriere” noch nie hinuntergeklettert. 19 Prozent Gefälle über Wurzeln, Gesteinsbrocken und Geröll auf einer Strecke von 5 km, eben die Wand hinunter, und weiß ist sie auch. Insofern hat der Wanderführer recht. An den ganz schlimmen Stellen wurde so eine Art Stufenbett errichtet, das dem Schrittmaß von Riesen angepasst ist.



Teilweise muss ich mich hinsetzen, um mit den Füßen die nächste Ebene zu erreichen. Ich greife jeden Ast, um das Abrutschen zu verhindern, gehe seitwärts, rückwärts, hüpfe, schleiche und schlittere Zentimeter um Zentimeter Königssee entgegen. Als ich endlich unten bin, zeigt mir Google Maps an, dass es nun noch 3,7 km bis zum Hotel Georgenhof sind. Oh nein, denke ich, aber immerhin habe ich wieder festen Boden unter den Füßen. Ich schaue nochmal hoch zu dem Berg, auf dessen Gipfel ich vor Kurzem noch gestanden habe und bin stolz auf mich:

Nun laufe ich wie ein Automat – immer einen Fuß vor den anderen zum Hotel. Dass auf dieser Strecke auch Busse fahren, weiß ich da noch nicht. Wie ein Zombie wanke ich ins Hotel und werde ganz freundlich begrüßt, muss noch die Meldebescheinigung ausfüllen, mich für ein Essen auf der Menükarte entscheiden und dann wird mir mein Zimmer präsentiert, in dem ich nun bis zur Abreise am Freitag wohnen werde.




10. August 2022, Königsee und Jenner
Gestern bin ich um 20 Uhr ins Bett gefallen und heute morgen um 7.30 Uhr wieder aus dem Koma erwacht. Total zerknautscht im Gesicht, als hätte ich es über Nacht im Schraubstock eingespannt. Habe direkt Hemmungen, so zum Frühstück zu gehen, aber was bleibt mir übrig! Ich beschließe, heute zum Königssee zu fahren. Ein Stück laufe ich einen Weg an saftigen Wiesen entlang und beobachte die Landung eines Gleitschirmfliegers. Nun weiß ich, dass das also gut funktionieren kann. Ist trotzdem keine Option für mich. Gegenüber ragt der Grünstein auf und ich staune, dass ich gestern da oben war.

Der Bus ist unglaublich voll und lässt schon ahnen, was mich am Königssee erwartet. Durch ein Spalier von Souvenirläden hindurch werden die Touristen zum See geschleust. Spätestens dort gibt es die ersten Ehekrisen, weil die Frauen in den Läden hängengeblieben sind. “Ich hab jetzt die Schnauze voll!”, ereifert sich ein älterer Herr. “Können wir nicht erst mal die Karten kaufen, Irene? Danach müssen wir doch sowieso noch warten! Also ich gehe jetzt weiter!” Und recht hat er! Die Warteschlange an den Kassen ist gigantisch. Wenn man das geschafft hat, muss man ca. eine Stunde warten, bis man aufs Schiff kann. Mir vergeht schlagartig die Lust darauf und ich mache kehrt. So gerne fahre ich nun auch nicht Boot. Ich mache einen Abstecher in die Romy-Schneider-Ausstellung und entdecke auf einem Schild den Hinweis auf den Malerrundweg. Das hört sich doch gut an! Wald! Wandern! Der Weg schraubt sich entlang des Sees in die Höhe und bietet beste Sicht auf das tiefblaue, 190 Meter tiefe Gewässer.



Der Rundweg ist mit QR-Codes ausgestattet. Scannt man sie ein, bekommt man interessante Dinge zum Nationalpark Berchtesgadener Land erzählt. Die Dauer ist perfekt abgestimmt. Man läuft ja weiter, während man zuhört und immer kurz vor der nächsten Station ist der Sprecher fertig mit seinem Text, so dass man den nächsten QR-Code abrufen kann. Gefällt mir sehr gut! Als ich aus dem Wald raustrete, stehe ich vor der Talstation der Jenner-Bahn, einer Seilbahn, die zum 1847 m hohen Jenner fährt. Hatte ich gar nicht auf dem Schirm, aber ich nutze die Möglichkeit, nochmal auf einen Gipfel zu gelangen. Mit Gästekarte kostet mich Hin- und Rückfahrt 34 €, aber egal! Es ist die gleiche Art Seilbahn wie die in den Gärten der Welt und gerade nicht sehr frequentiert. Ich habe eine Kabine ganz für mich allein.


Es gibt auch eine Mittelstation, dort biegt die Bahn um 45 Grad nach rechts ab und schwebt von dort aus ganz steil nach oben. Als ich dann raustrete aus der Kabine, stockt mir der Atem. Gestern war die Sicht ja schon fantastisch, doch heute bin ich noch höher. In der Ferne sehe ich den Gipfel des Jenner und viele Menschen, klein wie Ameisen, die sich über Treppen auf den Weg dorthin machen.

Will ich auch! Das erste Stück ist auch kein Problem, zwar anstrengend, aber man fühlt sich sicher. Doch die Stufen auf den letzten Metern sind ziemlich schmal, rechts ist ein Seil als Handlauf gespannt. Kommt einem jemand entgegen, muss man nach links (Abhang!) ausweichen, denn von oben kommend braucht man das Seil nötiger. Oben angelangt, ist nicht viel Platz zum Treten, so dass man auf dem scharfkantigen Felsen rumturnt. Ich knipse wie wild, aber selbst mit Weitwinkel kann man das Auge nicht ersetzen. In echt ist es am schönsten.






Danach gehe ich noch ein bisschen shoppen, fahre mit dem Bus zurück ins Hotel und lasse den Tag ganz mondän bei Kaffee und Kuchen ausklingen. Man gönnt sich ja sonst nichts. Abends werde ich noch Zeugin, wie sich im Hotelgarten eine etwas korpulente Frau mit Schwung in die hölzerne Hollywoodschaukel fallen lässt, die krachend mit Getöse über ihr zusammenbricht. Sie hat Stauchungen davongetragen und klagt über Schmerzen im Nacken. Ich schenke ihr meine Salbe, die sie dankbar entgegennimmt.
11. August 2022, Berchtesgaden und evtl. Obersalzberg (Kehlsteinhaus)
Heute gilt es, diverse Mitbringsel einzukaufen, weswegen mir ein Ausflug nach Berchtesgaden sehr entgegenkommt. Hinwärts laufe ich durch ein schönes Waldstück und wieder fallen mir die herrlichen Alpenveilchen auf:

Es ist nicht weit, Schönau und Berchtesgaden gehen fast nahtlos ineinander über. An einem Wegweiser muss ich mich entscheiden: Markt oder Friedhof? Ihr werdet staunen, ich biege Richtung Friedhof ab. Da er immer wieder als Hinweis auftaucht, vermute ich dahinter einen besonderen Ort. So ist es dann auch. Von Schülern angefertigte Hinweistafeln stimmen den Besucher auf die Bedeutung und Entstehung dieser Kriegsgräberstätte ein. Viele Gefallene wurden hierher umgebettet, so dass dort fast 1000 Kriegstote ihre letzte Ruhestätte gefunden haben.


Auf den Tafeln wurde auch ein Krieg ausgefochten. Jemand war der Meinung, dass der Krieg nichts mit Verbrechen zu tun hatte und hat die Wörter kurzerhand durchgestrichen. Doch ein anderer hat das rückgängig gemacht und stattdessen die beiden Wörter unterstrichen und mit Ausrufezeichen versehen. Gut, dass die Streichungen nicht so stehengelassen wurden.

Schnell nähere ich mich über eine große Brücke dem Bahnhof und werde sofort verschlungen von dem Moloch Stadt. So viele Autos, Menschen und Lärm! Aber ich muss das aushalten und kann mich schon mal mental auf Berlin vorbereiten. Ich muss gar nicht lange suchen, wo der Bus zum Obersalzberg abfährt. Dicht an dicht steht eine Touri-Traube am Bussteig in der prallen Sonne. Laut meinem Fahrplan ist aber noch eine halbe Stunde Zeit, weswegen ich einen Schwenk durch die Bahnhofsbuchhandlung mache und mich erst fünf Minuten vor Abfahrt unters Volk mische. Wir passen alle rein in den Bus und los geht die Fahrt. Schnaufend und prustend schraubt er sich die steile Straße hoch und zehn Minuten später sind wir an der Dokumentation Obersalzberg, die leider wegen Umbau geschlossen ist. Schade, denn ich lese zu Hause gerade ein sehr gutes Buch über und von dieser Institution. Von hier aus gehts aber auch weiter zum Kehlsteinhaus. Vor vielen, vielen Jahren war ich schon mal dort, das war die Stelle, an der ich in Tränen ausgebrochen bin angesichts des Panoramas und ich möchte gerne meine Erinnerungen auffrischen. Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder laufen (4 Stunden Aufstieg) oder weiter mit einem der Spezialbusse, denn die Kehlsteinstraße ist sehr eng und steil. Laufen ist selbst mir zu viel, also Bus. Vorher muss man eine Karte kaufen. Doch als ich die lange Schlange sehe, tritt der gleiche Effekt wie am Königssee ein – mein Interesse erlischt schlagartig. Nö, das tue ich mir nicht an. Und irgendwie ist es auch sehr zwiespältig, wie Hitler hier vermarktet wird. Ich kehre um und fahre zurück nach Berchtesgaden. Um als Fußgänger in die Altstadt zu gelangen, muss man am Bahnhof unter den Gleisen durch, an einem Baumaterialienlager vorbei, Gittertreppen hoch und dann einen steilen Fußweg entlang. Die Stadt schmiegt sich in den Felshang. Es gibt einige Sehenswürdigkeiten und alte Häuser zu entdecken:




Natürlich auch traditionelle Läden, in denen man Salz, Trachten, Kuhglocken, Murmeltiere und anderen Schnickschnack kaufen kann. Der Reichtum springt einen förmlich an, aber irgendwie ist der Funke bei mir nicht übergesprungen. Eine merkwürdige Stadt ohne Flair, so mein Eindruck. Deswegen mache ich mich, nachdem meine Taschen gut gefüllt sind mit Souvenirs, auf den Rückweg. Zu Fuß. Durch Zufall gelange ich auf den SalzAlpenSteig und laufe die 9. Etappe quasi ein kleines Stück zurück nach Schönau. Er führt über diese wunderschöne alte Brücke:


Dahinter gehts ein letztes Mal richtig steil hoch und schon bin ich am Hotel. Dort empfängt mich die Besitzerin mit überschwänglichen Dankesworten, weil ich gestern mit der Salbe ausgeholfen habe und spendiert mir einen Aperol. Finde ich sehr nett und erfreue mich daran auf meiner sonnigen Terrasse, bevor ich zum opulenten Menü der Abendkarte übergehe. Noch eine Woche länger, und ich würde aus allen Nähten platzen. Das ist ein Verwöhnhotel! Zum Abschluss ein letzter Blick auf die Berge:


Nun muss ich versuchen, meine Einkäufe zu verstauen, bin gespannt, ob alles in den Rucksack passt. Mein Zug fährt erst morgen Mittag, habe also keinen Stress. Es bleibt spannend, ob die Rückfahrt reibungslos verläuft!
Herzlichen Dank an alle, die bis zum Ende lesend mitgewandert sind!