“Auf den Platz, fertig, los!” Die Marzahner Literanauten in Eisenhüttenstadt

Oft gehen nicht wir auf Projekte zu, sondern diese kommen zu uns. Manchmal sogar zwei auf einmal, so geschehen im Frühling dieses Jahres. Martin Maleschka, der kreative und unruhige gute Geist von Eisenhüttenstadt, Architekt und DER Kenner von baubezogender Kunst der DDR fragte mich, ob sich die Schreibwerkstatt an der Ideenfindung zur Wiederbelebung des Lost Place “Platz der Jugend” beteiligen möchte.

Ich war sofort entflammt von dieser Möglichkeit, den Jugendlichen die Planstadt Eisenhüttenstadt noch ein bisschen näher zu bringen.

Zum selben Zeitpunkt erhielt die Schreibwerkstatt eine Einladung des AKJ (Arbeitskreis für Jugendliteratur) zum Literanautentreffen in Bad Hersfeld.

Dieses Wochenende sollte dazu dienen, jungen Leuten Praxistipps zu vermitteln, wie sie andere Jugendliche für das Lesen und Schreiben begeistern können. Auch hierfür gab es großes Interesse innerhalb der Schreibgruppe. Was also tun? Hat nicht das eine mit dem anderen zu tun? Kurzentschlossen haben wir beide Angebote miteinander verbunden. Unsere Berliner Literanauten nahmen in Bad Hersfeld an fünf verschiedenen Workshops teil und kamen mit vielen Anregungen für unseren Aufenthalt in Eisenhüttenstadt zurück:

  • Bild-Kunst-Werkstatt: Mit Edding oder Farbe Texte / Sprüche an Wände oder auf Plakate schreiben
  • Erzählwerkstatt: Jugendliche von damals und heute erzählen uns ihre Geschichte oder Erlebnisse, die sie mit dem Platz verbinden. Wir erzählen die Geschichte neu.
  • Schreibwerkstatt: Wir schreiben Geschichten über Personen, erfinden neue Figuren und verorten diese am Platz der Jugend.
  • Film-Werkstatt: Wir erstellen einen Book-Trailer oder halten unsere Eindrücke in einem Kurzvideo fest. Foto-Idee: Wir suchen oder fertigen einen Rahmen an, der als Bilderrahmen dient. Durch ihn fotografieren wir den Platz.

Dass wir davon nicht alles schaffen würden, war klar, aber wir fühlten uns gut vorbereitet.

Was macht den “Platz der Jugend” eigentlich aus, wie ging es dort früher mal zu und wie sieht er heute aus? Was soll die Aktion “Auf den Platz, fertig, los!” bewirken? Informationen dazu findet man hier in diesem Konzept:

Dank der Eisenhüttenstädter Gebäudewirtschaft bekamen wir drei Gästewohnungen kostenlos zur Verfügung gestellt.

Nun stand also einer Reise dorthin nichts mehr im Weg und am Freitag, den 30. Juni kamen wir abends dort an, verteilten uns auf die Wohnungen und stürmten noch schnell in die nahegelegenen Supermärkte, um uns fürs Wochenende mit Lebensmitteln einzudecken. Manche gingen sogar noch auf Wanderschaft, um die Umgebung zu erkunden.

Am Samstag war zunächst eine Stadtführung geplant. Die Architektin Gabriele Haubold führte uns zwei Stunden lang durch die Stadt, gab uns vorher einen sehr anschaulichen Einblick in die Planung der Stadt, lenkte unsere Aufmerksamkeit auf Details, die man normalerweise gar nicht beachtet, machte uns bewusst, dass hier nichts dem Zufall überlassen war und selbst an die Belüftung der Stadt gedacht wurde. Geschichtsunterricht, der alle begeisterte und uns bestens vorbereitete auf die nun bevorstehenden Aktivitäten am Platz der Jugend.

Dort erwartete uns schon Martin Maleschka. Wir beschlossen, nach dem Intensivkurs zur Stadtgeschichte nun erst einmal eine Pizzapause einzulegen. Zwischen Bestellung und Lieferung führte uns Martin in die ehemalige Schule am Platz und das dortige leere Schwimmbecken.

Hierzu gab es viel zu berichten, allein das Wandbild lädt ja schon dazu ein. Während und nach dem Essen gings weiter mit dem Input, allmählich bekamen alle ein Gespür für das besondere Feeling des Platzes. Einwohnerinnen kamen vorbei, setzten sich zu uns an den Tisch und erzählten von früher, wie sie hier zur Schule gingen, einkauften und später als Erwachsene in der Gaststätte mit der Brigade oder Familie feierten. Man konnte es allen förmlich ansehen, wie das Gedankenkino sich in Gang setzte und sich Textideen entwickelten. Martin führte uns an eine Wand der Visionen. Hier hatten sich schon viele mit ihren Wünschen zur Platzgestaltung verewigt und auch wir trugen dazu bei.

Eisenhüttenstädter Jugendliche hatten kurz vorher die lange Wand des ehemaligen Einkaufszentrums inklusive nicht mehr existierender Stadtbibliothek mit Graffitis verschönert und Martin gab diese nun frei für unsere Gedichte, Sprüche und Dialoge, die wir mit Kreide auftrugen. Es herrschte eine sehr intensive, schöpferische Atmosphäre. Manche hatten sich zum Schreiben allein in Ecken verkrümelt, andere legten sofort an der Wand los. Verdichtet wurde diese ganz besondere Stimmung durch das wunderbare Geigenspiel von Charlotte. Die zarten Klänge verzauberten den Platz, Passanten blieben stehen, lasen unsere Texte und begannen ausnahmslos alle mit uns Gespräche über früher und heute. Diese Begegnungen und die ansteckende Begeisterung Martins für diesen Platz trugen wesentlich zu den melancholischen, aber auch hoffnungsvollen Texten bei.

Hier sieht man uns als aufmerksame Zuhörer und beim Denken, Schreiben und Musizieren:

So sah die Wand danach aus:

Der Tag neigte sich dann auch seinem Ende entgegen und wir verabredeten uns für den Sonntagvormittag noch einmal mit Martin auf dem Platz, um unsere Texte zu präsentieren. Charlotte und Luise hatten die Video-Variante gewählt als Ausdrucksmittel und einen Kurzfilm erstellt:

Als wir am nächsten Morgen auf den Platz zugingen, sahen wir richtig viele Leute vor der Wand stehen, die unsere Sprüche und Gedichte aufmerksam lasen. Welche Freude! Jeder von uns las laut vor, was er am Vortag an die Wand geschrieben hatte, zum Schluss gabs von Martin und mir ein anerkennendes Statement und ein Gruppenfoto.

Und hier sind die Texte gut leserlich dokumentiert:

Bevor wir uns dann Richtung Bahnhof bewegten, legten wir noch einen Zwischenstopp im Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR ein. Es befindet sich in einem ehemaligen Kindergarten und ist immer wieder einen Besuch wert, allein schon wegen der Fenster:

Es blieb noch genügend Zeit, dass sich alle in Ruhe die Dauer- und Sonderausstellung anschauen konnten und für einen Eintrag ins Gästebuch:

Projektpräsentation als Abschlussvideo der Marzahner Literanauten in Eisenhüttenstadt

Alle Fotos und Kurzvideos dieses Literanauten-Wochenendes sind HIER zu finden.

Die Audio-Projekt-Dokumentation wurde im Podcast “Mittwochs in der Bibliothek” der Mark-Twain-Bibliothek veröffentlicht: https://www.spreaker.com/episode/56478714

Unser Dank als Marzahner Literanauten geht an dieser und erster Stelle an den Arbeitskreis Kinder- und Jugendliteratur, an Martin Maleschka für die Einladung und Betreuung und an die Eisenhüttenstädter Gebäudewirtschaft für die kostenlose Übernachtungsmöglichkeit.