Lange war nicht sicher, ob ich diese Reise überhaupt antreten kann. Corona hat nicht nur mir einen dicken, roten Strich durch die Urlaubsplanung für 2020 gemacht, der Dubai-Besuch, den mein Sohn so perfekt und auch noch preisgünstig organisiert hatte, fiel z.B. ins Wasser, ein Wochenende in Iphofen mit Freundinnen und ein weiteres in Halberstadt mit Kolleginnen. Das ist natürlich alles zu verschmerzen, wenn nur so viel wie möglich Menschen gesund bleiben. Jedenfalls hatte ich einfach gar nichts unternommen und nicht storniert, in der Hoffnung, dass bis Juni alles wieder ins Lot kommt. Dass wir davon noch weit entfernt sind, wissen alle. Aber im Inland darf wieder vermietet werden und ich somit auch Urlaub in der Eifel machen.
Am 1. Juni trete ich die Fahrt an. Zunächst bis Köln, dann mit dem Regio bis Kall und von dort mit dem Bus nach Gemünd. Es klappt alles wie am Schnürchen. Nur eine Sache ist schwer auszuhalten. Wer mich kennt, ahnt es schon. Fünf Stunden maskiert – eine Herausforderung. Anschließend habe ich das Gefühl, über Wasserdampf gegart worden zu sein. Aber ich will hier nicht jammern, denn auch andere haben gelitten.
Nun bin ich am Ziel und schlendere mit meinem Köfferchen zur Pension am Alten Rathaus, muss mir aber noch 1,5 Stunden die Zeit vertreiben, weil die Rezeption erst ab 17 Uhr besetzt ist. Ich verkrümle mich in den Kurpark auf der Suche nach einer Bank im Schatten, denn es ist geradezu stechend heiß. Doch erstaunt muss ich feststellen, dass offenbar gerade die gesamte Einwohnerschaft von Gemünd dort flaniert und natürlich alle kühleren Plätze besetzt sind. Ich laufe und laufe, meinen ratternden Koffer hinter mir herziehend, immer am Fluss Urft entlang und entdecke schließlich einen Rückzugsort, an dem ich meinen Reiseproviant verspeise und das Buch “Deutschland ab vom Wege“ von Henning Sußebach zu Ende lese.
Der zweite Anlauf ist erfolgreich und ich bekomme ein wunderschönes Zimmer zugewiesen mit Boxspringbett (in dem ich so gut wie schon lange nicht mehr schlafe), einem exklusiv eingerichteten Bad mit einer ebenerdigen Dusche der besonderen Art und einem gemütlichen Balkon mit Blick auf den Wald.
Mein Abendessen muss ich außerhalb der Pension einnehmen. Meine Wirtin empfiehlt mir ein Lokal und gibt mir den Tipp, vorher zu reservieren. Das mache ich und lege den Zeitpunkt so, dass ich noch ein bisschen wandern gehen kann. Der Ort erinnert mich sehr an meine Heimat Meiningen, nur dass der Fluss, der sich durch den Park schlängelt, nicht Werra, sondern Urft heißt. Sogar der Wald, der sich erhebt, wenn man den Fluss auf einer Brücke überquert hat, ist mitsamt den nach oben führenden Zickzack-Wegen ähnlich.
Es gibt Kunst, ein Wehr mit Fischreiher und herrschaftliche Häuser auf dem Berg. Nur einen Wanderschuh-Zaun habe ich in Meiningen noch nicht gesehen. Ich folge einem ausgeschilderten Weg, der angeblich in 2,1 km nach Wolfsgarten führt. Klingt interessant, finde ich, auch, dass die Strecke in 1,5 Stunden hin und zurück zu schaffen sein müsste und stiefle los. Immer bergauf, erst schnell atmend, dann schnaufend, dann keuchend. Seit wann sind 2 km so lang? Nach 40 Minuten bin ich nur noch 600 Meter vom Ziel entfernt, als das nächste Schild 1,6 km anzeigt. Hä? Wieso das denn jetzt? Ich komme der Sache auf den Grund – eine Umleitung. Die ignoriere ich jetzt einfach mal und komme schließlich in Wolfsgarten an. Tiefe Enttäuschung macht sich breit. Das sind einfach nur ein paar Wohnhäuser. Egal, ich muss mich jetzt sputen, um meinen reservierten Platz im Restaurant einnehmen zu können und renne fast bergab. Jedenfalls bin ich somit auf meine täglichen Schritte gekommen und kann mich jetzt belohnen mit einem köstlichen Flammkuchen, bevor ich nach einem Spaziergang durch das Städtchen und einem Glas Rotwein auf dem Balkon müde ins Bett sinke, im wahrsten Sinne des Wortes.
Der nächste Tag begrüßt mich schon um 6 Uhr. Ich habe ausgeschlafen! Das ist perfekt, so kann ich mich nach dem Frühstück, das mir an einem Tisch direkt vor meiner Zimmertür serviert wird, auf den Weg nach Vogelsang machen, mein heutiges Tagesziel. Das Wetter meint es gut, ich muss schon nach kurzer Zeit meine Jacke ausziehen. Auf einem Weg, der Wanderer-Herzen höher schlagen lässt, komme ich gut voran. Er führt zum größten Teil durch den Wald, in Anbetracht der Hitze sehr wohltuend. Aber auch Ebenen mit weitem Blick ins Land sind zu überqueren. Die Entfernungsangaben schwanken. 5,8 km erhöhen sich spontan auf 6,3 , um kurz darauf wieder auf 5,5 zurückzufallen. Man muss das alles nicht überbewerten.
Die Wegebeschaffenheit reicht von Waldboden, Kies, Holzbohlen über Wurzeln, Baumstämme und Wiese. Von einer sehr originellen Bank aus – dem Eifelblick – kann man schon die ersten Gebäude von Vogelsang erkennen. Nun ist es nicht mehr weit, und monumentale Torhäuser stimmen darauf ein, was den Besucher nun erwartet.
Auf rund 100 ha Fläche wurde zwischen 1934 und 1936 die NS-Ordensburg Vogelsang aus dem Berg gestampft, aber wie die meisten Großbauten der Nazis nie fertig gebaut. Von den Dimensionen her ist die Anlage vergleichbar mit dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände oder dem Seebad Prora. Die Lehrgangsteilnehmer sollten dort zu „neuen deutschen Menschen“, zu „Herrenmenschen“ ausgebildet werden. In der Hauptsache ging es um körperliche Ertüchtigung. Mit Beginn des 2. Weltkrieges wurden die Lehrgänge eingestellt und die jungen Männer zogen zunächst in den Krieg. Später wurden viele von ihnen als Besatzungsverwaltung in Polen und den baltischen Staaten eingesetzt und wurden somit zu Mittätern. Wer auserwählt wurde, auf Vogelsang eine Ausbildung zu erhalten, war mächtig stolz darauf. Viele kamen aus einfachen Verhältnissen und waren es nicht gewöhnt, dass sie z. B. das Essen vornehm serviert bekamen. Es war eine Ehre, in diese Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Das Gelände zeugt noch vom einstigen Glanz und man kann sich sehr gut vorstellen, wie das Leben dort ablief. Von der Thing-Stätte über Gruppenunterkünfte, vom Fußballplatz über Tennis und Schwimmhalle war alles vorhanden. Die Ordensburg wurde auf stark abschüssigem Gelände oberhalb des Urftsees in die Landschaft gezaubert.
Die Gebäudekomplexe sind terassenförmig und symmetrisch angeordnet. Nach dem Besuch des Dokumentationszentrums (natürlich mit Mundschutz und desinfizierten Händen, um 95 € leichter bzw. 3 Büchern und einer lustigen Trillerpfeife schwerer) klettere ich die endlos scheinenden Treppen hinab fast bis zum See und bin lange unterwegs. Wenn man denkt, dass nun das unterste Level erreicht sein müsste, geht es abermals weiter hinab. Vom See aus musste das früher wie ein überdimensionales Amphitheater ausgesehen haben. Mittagspause mache ich zu Füßen des Fackelträgers und laufe dann weiter zur Victor-Neels-Brücke, eine beeindruckende Stahl-Hängekonstruktion. Erbaut 2009. Ich passiere gedankenverloren ein junges Pärchen und schrecke zusammen, als mich der junge Mann nachdrücklich und laut grüßt. Überrascht von so viel Höflichkeit grüße ich zurück. Allerdings wird mein freundlicher Ton von seiner Freundin nur verhalten erwidert. Ich vermute, dass sie mich zuerst gegrüßt hat und ich – durchaus leicht schwerhörig – nicht reagiert habe, worauf ihr Freund von mir eine Erwiderung nachdrücklich einforderte und ich auf die beiden wohl einen arroganten Eindruck gemacht habe.
Von der Brücke aus biege ich auf den Radweg ab zurück nach Gemünd, immer entlang der sehr traurig wirkenden Urft
und komme staubig und auch ein bisschen erschöpft nach 7 km in meiner Unterkunft an. Noch ein Abstecher zu Netto, einem viel zu engen und auch schmutzigen Laden, ein Schlenker durch die Einkaufsstraße mit netten kleinen Geschäften und dann reicht es für heute. Ich lasse den Tag auf meinem Balkon ausklingen, lasse mich aber vorher noch von meiner netten Wirtin beraten, wie ich den morgigen Tag gestalten könnte. Ich möchte gerne den sogenannten Eifel-Amazonas abfahren. Das ist die Seenkette, die sich wie eine Schlange durch die Wälder pflügt. Sie sucht mir Bus- und Schiffsverbindungen raus und liefert eine perfekte Wegbeschreibung dazu.
Und schon ist Mittwoch, der 3. Juni. Ab 8 Uhr gibts Frühstück. Schon gestern und heute auch sitzen meine Mitmieter aus den anderen Zimmern lautlos essend, kaum hörbar miteinander kommunizierend und tadellos gekleidet und frisiert an ihren Tischen. Niemand hebt den Blick, wenn ich aus meinem Zimmer poltere und Guten Morgen krächze. Nur das Pärchen aus dem Nebenzimmer grinst mich auch heute wieder vielsagend an. Ich ahne es – bestimmt habe ich mal wieder laut geschnarcht.
Bevor ich mein Zimmer verlasse und zur Bushaltestelle laufe, bringe ich natürlich alles in Ordnung und mache mein Bett wie beim Militär. Gradlinig und glattgestrichen. Trotzdem ist es jeden Abend noch ordentlicher, wenn ich zurückkomme.
Die heutige Tour wird sehr abwechslungsreich. Bus, zu Fuß, Schiff, noch ein Schiff, Bus. Aber trotzdem komme ich auf 18870 Schritte, 13 km und 831 verbrauchte kcal, obwohl ich mir sehr faul vorkomme. Ich fahre zunächst bis kurz vor Vogelsang, um von dort aus zu dem geschleiften Ort Wollseifen zu laufen. Es ist eine sehr traurige Geschichte. Als 1945 der Krieg zu Ende war, schöpften die ca. 550 Einwohner Wollseifens neue Hoffnung und brachten ihre Häuser und die zerstörte Kirche wieder in Ordnung. Dann übernahmen die Belgier das Areal Vogelsang und errichteten in der Umgebung einen Truppenübungsplatz. Nun war Wollseifen ihnen im Weg und die Einwohner erhielten 1946 den Befehl, innerhalb von drei Wochen das Dorf zu räumen. Ist das nicht furchtbar? Kaum konnten sie nach Kriegsende wieder durchatmen, mussten sie alles aufgeben! Was sich da für Schicksale verbergen. Mich stimmt jeder Abriss immer unendlich traurig, die Geschichte, die sich an solchen Orten abgespielt hat, wird im Prinzip mitentsorgt, als hätte dort nie Leben stattgefunden. Ich fühle mich sehr an Küstrin erinnert und versuche vergeblich, mir das Dorf vorzustellen, durch dessen Schatten ich gerade laufe.
Mein Weg führt mich weiter zur Urftsee-Staumauer. Zunächst über eine Hochebene, die mich wieder mal an Meiningen erinnert. Von hier aus kann man sehr gut das gegenüberliegende Vogelsang erkennen.
Und dann geht es über eine längere Wegstrecke bis runter zur Staumauer steil bergab. Ich bin sehr froh über meine Laufrichtung und habe vollstes Mitgefühl für alle, die mir mit hochroten Köpfen entgegenkommen. Sehr auffällig sind die vielen toten Fichten, die dem Wald einen Hauch von Endzeitstimmung verleihen. Da sie auch direkt am Wegrand stehen, wird der Wanderer durch Warnschilder auf die Gefahr von umstürzenden Bäumen hingewiesen mit dem Vermerk, dieses Gebiet zügig zu durchlaufen und keine Rast einzulegen.
Die Staumauer kommt in Sicht, erst von einem Ausguck zu bewundern und kurze Zeit später überquere ich sie. Sehr interessant und ein Zeugnis des akuten Wassermangels ist der Pegelturm. Dort kann man ablesen, dass der Wasserpegel einen absoluten Tiefstand erreicht hat.
Dank der Wegbeschreibung meiner Wirtin weiß ich genau, wie ich zur Anlegestelle komme. Der Weg hinunter zum Ufer zieht sich. Wenn man es da mal eilig hat, braucht man eine gute Kondition. Wenig später legt das Schiff an und ich tauche ein in eine stille Oase, in eine friedliche Welt, die einen alle Sorgen vergessen lässt. Ich denke: Was hat der Kapitän doch für einen entspannten Job! Er muss ein total ausgeglichener Mensch sein.
Es sind nicht viele Passagiere an Bord, aber durch Corona hat man sowieso automatisch einen Tisch bzw. eine Bank für sich allein. Der blaue Punkt auf der Karte zeigt meinen Standort. Bald ist eine Wasserkreuzung erreicht und die Rursee-Staumauer. Dort werde ich umsteigen und dann rechts abbiegen. Während der Fahrt lehne ich mich entspannt zurück, lasse mir den Fahrtwind um die unbedeckte Nase wehen und höre einohrig ein Hörbuch über die meist unbekannten Pioniere der digitalen Errungenschaften, welchen Forschern bis zurück ins 18. Jh. wir das Internet, die Smartphones usw. zu verdanken haben. In diesem Zusammenhang erfahre ich, dass der Ausspruch ‚Im Internet surfen‘ von einer amerikanischen Bibliothekarin geprägt wurde. So lernt man immer was dazu.
Bevor ich umsteige, schaue ich mich in Rurberg etwas um. Auf der Suche nach der hiesigen Anlegestelle entdecke ich diese Bänke und frage mich, ob dort schon jemals einer gesessen hat? Das zweite Schiff ist eine Nummer größer. Eine Bandansage teilt den Passagieren Wissenswertes mit. Das Schiff wurde 1979 gebaut und hat 484 PS. Zur besseren Manövrierfähigkeit besitzt es Querstrahlruder. Interessant finde ich auch, dass der Nationalpark Eifel der einzige in NRW ist. Auf den Seen dürfen außer der Wasserpolizei und den Passagierschiffen keine Motorboote fahren. Ich sitze wieder auf dem Oberdeck, muss mich aber nach einiger Zeit nach unten verkrümeln, weil es anfängt zu regnen.
Das Wetter ist heute nicht so sonnendurchflutet, aber auch nicht direkt schlecht. Nur hin und wieder pieselt es ein bisschen. Tja, so neigt sich auch diese Fahrt ihrem Ende entgegen und ich muss aussteigen. Endstation Schwammenauel. So heißt der Ort wirklich. Auch hier gibt es wieder eine Staumauer.
Ich suche und finde die Bushaltestelle, lasse mich im Wartehäuschen nieder, vollverglast, von allen Seiten einsehbar und warte auf den Bus. Und warte. Und warte. Hm. Noch während ich überlege, ob ich meine Wirtin um Abholung bitte, rauscht ein Bus vorbei. Für einen kurzen Moment treffen sich der erstaunte Blick des Busfahrers und meiner, bis er den Bus ca. 50 Meter weiter mit einer Vollbremsung zum Stehen bringt. Ich sprinte hin, fummle mir unterwegs die Maske ins Gesicht und steige ein. „Sie müssen stehen auf Straße! Ich Sie nicht sehen!“, werde ich belehrt. Ich erwidere, dass es erstens regnet und er zweitens viel zu spät kommt. Vermutlich hat er einfach mal nicht damit gerechnet, dass tatsächlich jemand mitfahren möchte, denn ich bin und bleibe der einzige Fahrgast. In rasantem Tempo rauschen wir durch die kurvige Landschaft und ich pendle in meinem Sitz wie ein Metronomzeiger von rechts nach links. Er wird ja auch an seinem Leben hängen, rede ich mir beruhigend ein. Es gibt weder eine Anzeige noch eine Durchsage der Haltestellen, doch ich kenne mich ja mittlerweile gut aus und weiß, wann ich das Knöpfchen drücken muss. Dieses Erlebnis schließt ab mit der Frage des Busfahrers mitten im Kreisverkehr, ob ich schon hier aussteigen würde, er müsste nämlich noch zur Tankstelle. Sowas ähnliches habe ich mal vor vielen Jahren erlebt, als der Busfahrer wortlos vor einem Schuhgeschäft hielt und sich quasi im Vorbeifahren ein Paar Schuhe kaufte. Heute war das aber ok, ich lerne dadurch einen mir bis dahin unbekannten Teil von Gemünd kennen und lande wie von Zauberhand zum dritten Mal vor einem Laden, um den ich schon seit Montag rumschleiche. Nun ist es soweit – ich trete ein und bin im Renate-Paradies. So viele schöne schwarz-weiße Klamotten! Ich versuche aber, mich auf farbige Lieblingsstücke zu fokussieren. Wirklich! Doch es schmuggelt sich doch was Schwarzes mit in die Umkleidekabine. Und als die Verkäuferin behauptet, ich sei zierlich und sie mir das auch schriftlich bescheinigen würde, werde ich schwach. Eine raffinierte Verkaufsstrategie😎😀
Bin gespannt, ob die Bücher von gestern und die Plünnen von heute in meinen kleinen Koffer passen!
Donnerstag, 4. Juni. Als mein Wecker klingelt und ich nach draußen schaue, drehe ich mich einfach wieder um. Der regennasse Balkon und das gleichmäßige Rauschen des Regens bringen jegliche Unternehmungslust in mir zum Schweigen. Man könnte ja auch mal einen Lesetag einlegen, überlege ich und schlafe wieder ein. Ich träume, dass ich von meinem Mann den Auftrag bekomme, einen Hochzeitsstrauß zu besorgen. Allerdings nicht für mich. Ich gebe mir Mühe und habe aber plötzlich einen alten, freundlichen Mann an meiner Seite, der durch nichts von seiner Überzeugung abzubringen ist, dass wir ein Paar seien. Er will am liebsten Händchen halten und ich versuche, ihn loszuwerden, Vergeblich. Außerdem muss ich ja noch den Strauß besorgen, doch in den Blumenläden gibt es keine, nur Ostergestecke. Gott sei Dank erlöst mich neuerliches Weckerklingeln. 8 Uhr. Nun aber raus aus dem Boxspringbett! Draußen sitzen bestimmt schon alle brav beim Frühstück. Wenn ich will, kann ich fix sein. 8.20 Uhr nehme ich an meinem Tisch Platz und versuche aus den Mienen der anderen abzulesen, ob sie wegen meines Handyweckers wach sind oder freiwillig. Als der Wirt das Frühstücksei serviert, fragt er: „Halb zehn, Frau Zimmermann?“ Wir hatten gestern vereinbart, dass er mich heute mit dem Auto mitnimmt, wenn er die Koffer der Eifelsteig-Gäste zum nächsten Schlafplatz bringt, mich quasi dort aussetzt. Dann könnte ich die Etappe zurückwandern. Unmotiviert eiere ich rum: „Ich weiß nicht… wie ist den die Wetterprognose?“ Da poltert er los, dass das ja jetzt das beste Wanderwetter wäre, nicht so widerlich heiß wie in den letzten Tagen. „Na und? Dann werden Sie halt nass! Anschließend eine heiße Dusche, und alles ist gut!“ Ich sinke in meinem Stuhl beschämt zusammen. Natürlich hat er recht! Also sitze ich 9:30 Uhr in seinem Auto. Unterwegs reden wir über Politik heute und gestern. Er singt ein Loblied auf den Föderalismus, ist aber nicht begeistert von Armin Laschets Corona-Politik. „Bis 2015 war Deutschland eine international anerkannte, starke Demokratie. Das ist jetzt vorbei. Und im Bundestag gibt es kaum noch richtige Debatten, alle haben sich lieb. Bis die AfD einzog und alle aufmischte! Das war ein Spaß!“ Mein gestriges Busfahrer-Erlebnis hatte ihm schon seine Frau berichtet. „Das ist nun schon der zweite Fall in einer Woche! Das geht gar nicht! Der Mann muss weg!“ Oh, oh, jetzt bin ich schuld, wenn der Busfahrer entlassen wird! Ein polnisches Auto, das fälschlicherweise in einer Geradeausspur links abbiegen will und im Wege steht, wird laut schimpfend weggehupt. Er ist offenbar sehr – nun ja – temperamentvoll. Er lässt mich am Kloster Steinfeld raus. Von hier aus sind es 18 km zurück. Als ich das Kloster betrete, bin ich froh, keinen Lesetag eingelegt zu haben. Ein in Größe und Architektur unglaublich beeindruckender Komplex. Das beginnt schon mit der Basilika. Im Vorraum nicht zu übersehen ein riesiger Weihwasserkessel, ein dickes, sehr alt aussehendes Fürbitten-Buch und eine große Abteilung mit christlichen Devotionalien, von denen sich mir nicht bei allen der Sinn erschließt. Aber trotzdem erliege ich der Versuchung und kaufe kleine, neckische Dinge wie Engelchen und Armbänder zum Verschenken. Im eigentlichen Kirchenschiff steht mittig ein Marmorgrab mit vielen echten, roten Äpfeln geschmückt. Auf Wikipedia findet man dazu Folgendes:
„Das Grab Hermann Josephs von Steinfeld, in der Mitte der Kirche platziert und von einer 1732 hergestellten Platte mit einer liegenden Figur aus Alabaster bedeckt, macht die Kirche zu einem Wallfahrtsort. Das eigentliche Grabmal aus Urfter Marmor stammt aus dem Jahr 1701. Traditionellerweise liegen stets ein paar frische Äpfel auf dem Grab neben der Alabaster-Figur. Nach einer Legende soll Hermann Joseph einmal dem Jesuskind der Muttergottes in der Kirche St. Maria im Kapitol zu Köln einen Apfel angeboten haben, den es angenommen habe.“
Entlang des linken Seitenflügels reiht sich Beichtstuhl an Beichtstuhl, insgesamt 5 oder 6. Das legt die Vermutung nahe, dass dieser Ort ein Sündenpfuhl ist. Erst auf einem Lageplan erfasse ich, wie groß diese Anlage ist. Hier gibt es sogar einen Tennisplatz, ein Gymnasium und ein Labyrinth.
Ziemlich witzig finde ich dieses Schild:
In unserer Bibliotheks-WhatsApp-Gruppe entspinnen sich darum lustige Überlegungen, ob Schafe Talente sind oder Talente Schafe, ob Mönche vielleicht Schafe mit Talent sind oder sich Schafe als talentierte Mönche verkleiden. Eventuell aber besitzen Mönche scha(r)fe Talente?
Nach diesem Exkurs durch die Religionsgeschichte starte ich nun zu meiner Eifelsteigwanderung. Es regnet nicht mehr und ich tauche ein in eine frischgewaschene Landschaft in dermaßen sattem Grün, dass ich an meiner Sehfähigkeit zweifle. Die Wiesen stehen in vollem Saft, worüber sich auch die Pferde und Kühe auf den Weiden freuen.
Ständig muss ich fotografieren, ich kann gar nicht anders, weil ich unbedingt festhalten will, wie unglaublich schön es hier ist und auf welch vielfältigen Wegen man durch dieses Paradies geleitet wird. Mir wird klar, dass die junge Frau, deren Koffer heute morgen transportiert wurde, diese Etappe mir entgegengesetzt läuft. Ich werde ihr also begegnen. Fragt sich nur, an welcher Stelle? Mein Ehrgeiz ist geweckt. Unbedingt muss das an einer Stelle passieren, an der ich schon weiter gelaufen bin als sie! Also darf ich maximal noch 9 km, besser aber natürlich weniger vor mir haben und sie demzufolge auch 9 oder mehr. Es kommt mir daher gelegen, dass es zunächst wenig bergauf geht und Pause wird erst gemacht, wenn wir aneinander vorbei sind! Meine Füße laufen fast alleine und gespannt spähe ich auf jeden Wegweiser mit Kilometerangabe. Und YEAH!!!!! 10,2 km liegen hinter mir, als wir uns begegnen. Nun könnte ich ja mal was essen, doch jetzt fängt es an, leicht zu regnen. Das macht dann auch keinen Spaß, weswegen ich einfach weiterlaufe. Das Kuriose ist, dass mir in Bewegung nichts, aber auch gar nichts wehtut. Sobald ich aber stehenbleibe, scheine ich sofort Rost anzusetzen.
Ich erreiche Olef, ein ganz entzückendes Städtchen. Sogar bei Regen.
Übrigens wandern auch andere Tiere auf dem Eifelsteig:
Langsam bekomme ich nun aber doch Hunger und genau im richtigen Moment taucht nach einem steilen Anstieg eine Hütte auf mit fantastischem Ausblick auf Olef. Hier lasse ich mich nieder und verzehre mein Käsebrötchen.
Kurze Zeit später eine zweite Unterstellmöglichkeit, die sich an idyllischer Stelle mitten im Wald befindet. Etwas wehmütig halte ich mich darin kurz auf, weil ich weiß, dass sich die Etappe ihrem Ende entgegenneigt mit 28.000 Schritten, 19 km und 1250 kcal-Verbrauch.
Ich beschließe, dass ich es mir leisten kann, mich in einer Konditorei mit Milchkaffee und Torte zu belohnen. Gedacht, getan. Hat aber leider geschmacklich nicht mit dem Aussehen konkurrieren können.
Trotzdem war das ein würdiger Abschluss meiner Eifel-Stipvisite. Morgen muss ich pünktlich diesem Traum von Bett entsteigen, denn dann gehts zurück nach Berlin. Mit Mundschutz! Oder ich muss vier Stunden lang essen im Zug. Das überlege ich mir noch.
Fazit: Wer die Eifel nicht kennt – unbedingt besuchen! NRW hat viel zu bieten und ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemandem hier nicht gefällt. Auch Radfahrer haben ein weites Betätigungsfeld, ebenso Geschichtsinteressierte. Wanderer sowieso. In den vier Tagen habe ich mir nur einen kleinen Eindruck verschaffen können. Aber er macht Lust auf mehr Eifel!