02. September 2023. Ein Tag, mit dessen Programm man auch ein ganzes Wochenende füllen könnte. Drei Ereignisse locken die Menschen in die Mark-Twain-Bibliothek:
- Schreibwerkstatt für Jugendliche wie jeden ersten Samstag im Monat
- “Stadteinschreibungen” – ein performativer Streifzug durch die Marzahner Promenade mit Susanne Sodan
- Kultursommerfestival der Berliner Bibliotheken mit dem Theater Feuervogel und Sonny Thet
Letztere zeigen im Hof des Freizeitforums eine beeindruckende Fantasy-Show mit romantischer Musik, Nebel, tollen Kostümen, Stelzenlauf und dem verträumten Cello-Spiel von Sonny Thet.






Die Schreibwerkstattinteressierten treffen sich wie gewohnt zwei Etagen höher in der Artothek.

Mit am reichgedeckten Tisch sitzt unser Gast Susanne Soldan, die uns heute zu einem ungewöhnlichen Spaziergang über die Marzahner Promenade eingeladen hat. Zunächst aber gibts nach der Vorstellungsrunde erst einmal Geschenke für die Geburtstagskinder des vergangenen Monats. Es folgt eine sehr beliebte Aufwärmübung zur Lockerung der Synapsen in der kreativen Ecke unserer Köpfe: das Umknick-Schreibspiel.
WER | MACHT WAS | WANN | WO | MIT WEM | WARUM.
Dabei entstehen zwangsläufig ziemlich schräge Nonsens-Sätze, die aber auch oft sehr lustig sind und die ohnehin gelöste Stimmung beflügeln. Ein guter Zeitpunkt, um uns auf den Weg zu machen, die Marzahner Promenade mal mit anderen Augen, aus ungewohnter Perspektive und vor allem stumm neu zu entdecken. Nach einer kurzen Einweisung in die “Spielregeln” durch Susanne gehts dann auch schon los. Der Fokus liegt auf Lücken jeglicher Art.

Wir strömen in verschiedene Richtungen aus, finden wieder zusammen, beobachten uns gegenseitig und werden beobachtet, mäandern hin und her, umarmen Bäume und klettern darauf rum, befühlen Erde, Pflanzen und Fassaden, pulen in Spalten und Ritzen, ohne zu wissen, was uns dort erwartet, setzen und legen uns ins Gras und auf Beton, kriechen unter Werbeschilder und Geländer, üben uns in fließenden und synchronen Bewegungen, schaukeln, verstecken und drehen uns. Alles ist möglich, anfängliche Befangenheit fällt von uns ab, wir werden mutiger, unbeschwerter, neugieriger, aufmerksamer, ruhiger, fühlen uns in der Gruppe zusammengehörig und beschützt. Wir spüren den Einfluss der Umgebung auf uns und lassen es zu, nehmen das Zusammenspiel von Elementen der Stadtlandschaft wahr, von Architektur, Grün- und Spielanlagen.
Seit Jahren laufe ich fast täglich hier entlang, doch noch nie ist mir aufgefallen, dass die Wörter auf den im Boden eingelassenen Bronzeplatten in einem Zusammenhang mit den sich drehenden Bänken stehen. Sitzt man kreisend darauf, macht plötzlich alles Sinn:
Ost | Süd | West | Nord
Trauer | Wut | Ruhe | Freude
Feuer | Wasser | Erde | Luft












Ich fühle mich auf wundersame Art geerdet, genordet und ruhig. Um mich herum ganz besondere Menschen, die sich wie ich auf dieses Experiment eingelassen haben und meine Augen durch ihre Bewegungen auf Dinge richten, die ich so noch nie gesehen habe. Das meiste macht plötzlich Sinn. Manches wirft Fragen auf. Warum gibt es auf dem Platz so eine Art Schienen, die in das Pflaster eingelassen sind? Was hat es mit den Blutspuren auf sich, die uns allen aufgefallen sind?
Auf den Gullideckeln sind Berliner Wahrzeichen abgebildet. Den Fernsehturm, die Siegessäule, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, das Olympiastadion, das Brandenburger Tor und den Reichstag habe ich erkannt, aber das Bundeskanzleramt nicht. Wieder was dazugelernt.

Erstaunlicherweise wundert sich kaum jemand über unser seltsames Verhalten, nur ein paar Männer am Tisch vor einer Kneipe beobachten uns mit gelassenem Interesse.
Schneller als gedacht ist eine Stunde vergangen und wir laufen, unseren Gedanken nachhängend zurück zur Bibliothek. Dort verarbeiten wir schreibend unsere Eindrücke. Die Ergebnisse sind beeindruckend:
Ganz herzlichen Dank an Susanne Soldan! Dieser Nachmittag hat uns alle an Erfahrungen reicher gemacht!
Wie immer geht auch heute die Schreibwerkstatt mit den Werwölfen in die letzte Runde. Die Stimmung ist gelöst und Eddie legt noch ein kleines Tänzchen hin:
Ganz besonders aber haben mich die Worte von Nele gerührt, die demnächst nach Darmstadt zieht und trotzdem weiterhin zu den Schreibtreffen kommen möchte:
Die Schreibwerkstatt ist wirklich eins der schönsten Dinge hier in Berlin, die ich kennengelernt habe und die mich innerlich zwingen werden zurückzukommen. So viele tolerante, nette, kreative, offene, lustige, coole Seelen alle an einem Ort (und ALLE sind toll! ALLE), das habe ich noch nie erlebt!