Corona greift an – Dezember

09. Dezember

Die Ereignisse überschlagen sich, die Meldungen werden dramatischer, die Verunsicherung bei der Bevölkerung steigt, und wie es aussieht, auch bei den Politikern. Der nächste Shutdown droht. Bayern beginnt, Sachsen zieht nach, in den Medien wird das immer öfter thematisiert, hiesige Politiker, die noch vor zwei Wochen den Lockdown light besser fanden, äußern sich zunehmend konform mit Söder und kündigen erst vorsichtig, nun immer nachdrücklicher den harten Lockdown an. In der Bibliothek fragen die Nutzer, ob wir schon wissen, wann wir schließen, während wir noch froh sind, öffnen zu dürfen. Seit Tagen will ich dieses Tagebuch fortsetzen, gibt es doch täglich Erlebnisse der anderen Art. Aber ich schiebe es vor mir her: mache ich morgen, dann übermorgen und immer so weiter. Immer gibt es Wichtigeres zu tun. Webseite, Newsletter, Podcast, Schreibwerkstatt, Lesen (allerdings viel zu wenig), Putzen, Laufen usw. Dabei muss man einfach nur anfangen.

Mir steht auch eine Erinnerungshilfe zur Verfügung – ein Fünfjahres-Tagebuch, in das ich jeden Tag Notizen eintrage, was am Tag so los war. Mittlerweile führe ich das Buch seit drei Jahren und es ist interessant zu lesen, was ich z.B. heute vor zwei Jahren gemacht habe. Es war ein sehr windiger Sonntag, ich habe einen Plattenspieler bekommen und Quittenkompott gekocht. Heute ist dort zu lesen, dass ich im Rahmen eines Teambildungsworkshops mit meinen Kolleginnen und Kollegen bei feuchtkaltem Wetter Outdoor-Achtsamkeitsübungen mit getrockneten Kirschen machen musste.

Das ist nichts für mich. Ziel ist, den Moment zu leben, ohne an die To-Do-Liste zu denken oder an gestern. Bewusst den eigenen Körper wahrnehmen und wertungsfrei Beobachtungen zu machen. Ich habe nicht das Bedürfnis, mich so intensiv mit meinen Befindlichkeiten zu beschäftigen, fühle mich danach weder besser noch schlechter. Es bringt mir mehr Erfüllung, einen Fuß vor den anderen setzen zu können, den festen Boden zu spüren, die Natur zu genießen, tief durchzuatmen, dabei neue Ideen zu entwickeln und durchaus an anstehende Aufgaben zu denken. Diese angestrengte Achtsamkeit sich selbst gegenüber hat in meinen Augen was zutiefst Egoistisches: Hauptsache, mir gehts gut.

Die allgemeine Gereiztheit schlägt sich auch auf das ohnehin nicht vor Freundlichkeit sprühende Personal des Edeka-Marktes in meiner Nähe nieder. Bis vor einer Woche hatte man dort die Wahl zwischen Handkorb und Einkaufswagen. Meistens entscheide ich mich für den Korb, da ich selten größere Mengen einkaufe. Bei meinem letzten Besuch betrete ich ahnungslos den Supermarkt und werde sofort lautstark an den Pranger gestellt: „Nehmen Sie sich bitte einen Einkaufswagen!“ Ich versuche zu signalisieren, dass ich die Körbe suche. Antwort: „Deswegen sage ich ja: EinkaufsWAGEN!!!“ Ich kam mir so bloßgestellt vor als eine der Deppen, die nichts begreifen, dass ich eine Kehrtwendung einlegte und seitdem den Laden nicht mehr betreten habe. Ist mir schon klar, dass man mich nicht vermissen wird und ich werde das auch nicht durchhalten, aber eine gewisse Grundhöflichkeit kann man doch trotz allen Widrigkeiten erwarten, oder?

Ab und zu bin ich jetzt mal wieder gelaufen und ich habe vor, es regelmäßiger zu tun. Ich bin eigentlich nur eine halbe Stunde langsamer als mit der Bahn, aber oft ist diese entscheidend, um pünktlich auf Arbeit zu sein. Mein Zeitmanagment bedarf dringend einer Überarbeitung. Überhaupt müsste ich mir langsam mal Gedanken um die Weihnachtsgeschenke machen, meinen jährlichen Weihnachtsbrief schreiben, die Feiertage planen, Stollen verschicken (die übrigens herausragend gut gelungen sind), einkaufen gehen. Doch eine merkwürdige Antriebslosigkeit macht sich breit, ich sitze lieber an meinem Laptop, gestalte Adventskalender (auch einen literarischen als Podcast), bearbeite Veranstaltungsseiten, die Bibliothekswebseite, meinen Blog, arbeite als Mitherausgeberin „Best Practice in Bibliotheken“, schreibe Newsletter, betreue Facebook-Seiten, organisiere Konferenzen auf ZOOM für die Schreibwerkstatt, nehme an Webinaren teil… Das Lesen kommt entschieden zu kurz, aber trotzdem schleppe ich täglich Berge von neuen Büchern nach Hause, die ich mir anschauen möchte. Sie stapeln sich überall – auf dem Sofa, neben dem Bett, in meinem Rucksack, auf dem Tisch, im Regal. Wann soll ich die alle lesen? Die Tage – ja, das Leben sind entschieden zu kurz! Auch, um all die interessanten Orte aufzusuchen, die ich in dem Buch „111 Bauwerke in Berlin, die man gesehen haben muss“ entdeckt habe. Die To-Do-Liste wächst und wächst und wächst und es ist immer eine kleine Befreiung, eine Position streichen zu können. Doch vieles wie z.B. Reisen und Veranstaltungen organisieren steht dort seit März und kann erst nach Corona in Angriff genommen werden. Zum heutigen Abschluss vielleicht mal eine Gegenüberstellung der Zahlen vom 20. Oktober und heute:

20.10.202010.12.202020.10.202010.12.202020.10.202010.12.2020
Welt
7.77 Mrd. EW
Welt
7.77 Mrd. EW
Deutschland
83 Mill. EW
Deutschland
83 Mill. EW
Berlin
3.769.000 EW
Berlin
3.762.000 EW
Infizierte absolut40.612.04468.792.363377.0681.229.26921.90473.431
Infizierte in %0,5220,8850,4541,4810,581,95
Tote absolut1.121.3651.567.056984220.002241732
Tote in %0,01440,02020,0120,0240,00630,0195
Gegenüberstellung Oktober und Dezember 2020

Deutschland- und berlinweit sind die absoluten Zahlen um das 3-4-fache gestiegen. Wenn man dagegen liest: knapp 2 % der Berliner sind infiziert und rund 0,02 % sind gestorben, klingt es schon viel weniger dramatisch. Lauert die Gefahr eventuell eher im kaputtgesparten Gesundheitssystem als im Wegsterben der Bevölkerung? In der Grippewelle 2017/18 sind geschätzt 25.100 Menschen in Deutschland durch Influenza gestorben, etwas mehr als bis jetzt an Corona. „Das ist die höchste Zahl an Todesfällen in den vergangenen 30 Jahren“, betont Prof. Dr. Lothar H. Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts. Ich weiß nicht, was ich glauben soll.

10. Dezember

Es wird gar nicht richtig hell – Schlafwetter. Trotzdem bin ich wieder gelaufen und habe festgestellt, dass ich zu Fuß unterwegs das trübe Wetter sogar schön finde. Über alles legt sich eine wohltuende Stille, die Luft ist kühl, feucht und klar und mit der Bewegung bleibt man auch warm. Die Hochhaus-Artisten balancieren unbeirrt weiter und überraschen und erfreuen mich immer wieder:

Nebenbei höre ich „Alles, was mein kleiner Sohn über die Welt wissen muss“ von Fredrik Backman. Herrlich! Ein hinreißender Brief und gleichzeitig Liebeserklärung an den Sohn, aber auch an seine Frau. Ich schmunzle vor mich hin. Gestern habe ich Stefan Zweig gehört: „Die Liebe der Erika Ewald“. Die Pianistin verliebt sich während der Proben für ein gemeinsames Konzert in einen Geigenvirtuosen. Die Liebe ist platonisch, aber das Begehren wächst. Erika läuft jedoch weg, bevor es „zum Äußersten“ kommt. Später, gereift und bereit dafür, hat er aber eine andere. Sie bleibt ihr Leben lang allein. Die Sprache Zweigs ist faszinierend, er beschreibt die Emotionen und gesellschaftlichen Etikette bis ins Detail, die für heutige Verhältnisse fast umständlich und übertrieben klingen. Man bekommt eine Vorstellung davon, wie vorsichtig sich damals die Partner einander genähert haben.

In der Bibliothek stehen die Leute bis aus dem Freizeitforum raus Schlange. Seit langem wurden mal wieder so viele CDs zurückgegeben, dass ich ziemlich zu tun hatte, sie zurückzusortieren. Weiterhin bin ich damit beschäftigt, Bücher rauszusuchen und zum größten Teil auszusondern, die seit drei Jahren nicht ausgeliehen wurden. Es sind ca. 150 Titel! Und wieder habe ich Bücher mit nach Hause geschleppt. Der Berg wächst. Ich finde unter den nicht mehr genutzten Büchern so viele interessante und rede mir ein, dass ich das alles am Wochenende schaffe, zu lesen. Ha ha…

12. Dezember

Nun wird es nicht mehr lange dauern, dass der Shutdown kommt. Er wird ständig und überall angekündigt. Aber ich habe ein Buch entdeckt, in dem es u.a. um Corona geht, aber auch die anderen merkwürdigen Veränderungen, die in unserer Gesellschaft vor sich gehen. Ich feiere jeden Satz und würde am liebsten allen laut daraus vorlesen, weil mir das Buch so aus dem Herzen spricht! Auf dem Rückcover steht: „Was sind das nur für Zeiten? Innerhalb weniger Jahre ist aus uns eine hysterisch-hyperventilierende Gesellschaft geworden, in der sich Wutbürger, Weltverbesserer, vermeintlich Ewiggestrige und Meinungsmissionare feindselig gegenüberstehen. Und die gegenwärtige Krise hat keineswegs zur Verbesserung des Miteinanders geführt, sie hat die Blödheit einiger eher noch verschlimmert….“ Wenn ihr also mal wieder richtig herzhaft lachen wollt – lest dieses Buch! Vor allem das Kapitel über das Gendern und die gerechte Sprache…

Das Buch wird auf jeden Fall eine Empfehlung in unserem literarischen Adventskalender. Ebenso „Kat Menschiks & des Diplombiologen Doctor Rerum Medicinalium Mark Beneckes illustrirtes Thierleben“. Optisch ein Hingucker und inhaltlich äußerst unterhaltsam.

Den heutige Tag widme ich dem Weihnachtsbriefschreiben, dem Verpacken von Stollen und kleinen Geschenken, die dann auf die Reise nach Thüringen gehen. Dafür nutze ich die Packstation. Mal schauen, ob ich das hinbekomme. Aber so muss ich nicht eine Stunde vor der Post anstehen. Habe auch meiner Nachbarsfamilie einen Stollen geschenkt, der in diesem Jahr – vielleicht wiederhole ich mich – herausragend gut gelungen ist! Da aber draußen ein Hauch Sonne zu sehen ist, muss ich erst mal wandern gehen. Dazu passend steht auf meinem heutigen Adventskalenderblatt:

„So viele Dinge sind möglich, solange man nicht weiß, dass sie unmöglich sind.„Ich wollte nur einen Spaziergang machen und beschloss schließlich, bis zum Sonnenuntergang zu bleiben, denn ich entdeckte, dass ich beim Hinausgehen eigentlich nach innen ging.“

Johann Muir (1838 – 1914), schott.-US-amerik. Naturphlilosoph, Autodidakt

13. Dezember: Der Shutdown wurde verkündet. Beginn: 16.12.2020 bis vorerst 10.01.2021. Ob die Bibliotheken davon betroffen sind, weiß noch keiner. Buchhandlungen dürfen weiterhin öffnen.

15. Dezember: Nun haben wir es schwarz auf weiß – die Bibliotheken dürfen weiterhin öffnen. Nicht alle tragen diese Entscheidung mit. Alle anderen Kultur- und Freizeiteinrichtungen sind geschlossen und wir befürchten, dass nun noch mehr Ansturm sein wird. Und irgendwie ist das alles so absurd, weil man verhindern muss, was eigentlich wünschenswert ist unter normalen Bedingungen: dass die Menschen sich gerne in der Bibliothek aufhalten, mit ihren Kindern kommen, in gemütlichen Ecken schmökern, sich austauschen, miteinander ins Gespräch kommen. Wir sollen Aufenthaltsanreize unterbinden. Ich hoffe sehr, dass sich nach Corona alles ganz schnell einpegelt und wir uns wieder über die Beliebtheit der Bibliotheken freuen können.

Die Menschen kaufen wie von Sinnen, heute ist der letzte Tag vor dem Shutdown. Ich habe meine Weihnachtseinkäufe beim bösen Amazon getätigt, niemals würde ich mich anstellen, um shoppen zu können. Deren Logistik ist eben nicht zu toppen und ja, ich weiß, zu welchem Preis. Trotzdem! Zum ersten Mal habe ich die Packstation genutzt, um Pakete zu verschicken. Ich bin begeistert! Schnell, unkompliziert, ohne anstehen bei der Post. Kann ich nur empfehlen!

16. Dezember. Gestern standen die Leute noch Schlange, heute warteten um 14 Uhr zwei Personen vor der Tür. Ab 17 Uhr kam fast kein Besucher mehr. Waren es gestern noch 1500 Entleihungen, sank die Zahl heute um mehr als die Hälfte. Verrückt. Jetzt muss jede Bibliothek ein Hygienekonzept erarbeiten und öffentlich aushängen. Wir müssen Desinfektionsmittel zur Verfügung stellen, jemanden zum Lüftungsbeauftragten ernennen, die Leute auseinandertreiben, wenn sie den Abstand nicht einhalten, die Tastaturen stündlich desinfizieren. Müssen wir dann eben so machen. Es gibt nur eine Alternative: Wir müssten sonst schließen.

18. Dezember. Heute haben wir erfahren, dass alle Bibliotheken in Treptow-Köpenick wegen Corona-Erkrankung schließen müssen. Das ist nun schon der zweite Stadtbezirk, der aussteigt. Wir halten an unserem Konzept fest. Die Besucherzahlen sind weiterhin mäßig und so soll es ja auch sein. Man freut sich, wenn wenig Leute kommen. Das hätte ich vor einem Jahr für völlig absurd gehalten. Heute habe ich mich mit den Büchern der Politik-Abteilung beschäftigt. Ca. 100 Titel wurden in den letzten zwei Jahren nicht mehr ausgeliehen. Das ist aber nicht verwunderlich, denn Politik ist ja einem ständigen Wandel unterzogen. Wen interessiert heute z.B. noch der Skandal um Karl-Theodor zu Guttenberg! Also weg damit. Das kann ich mittlerweile, ohne mit der Wimper zu zucken. Nächstes Jahr ziehen wieder aktuelle Titel ein ins Regal. Es herrscht ein reges Kommen und Gehen.

Ich habe mich auch mal wieder auf dem Dach umgeschaut und bin begeistert, wie schön es geworden ist. Nun kann man sich ins nächste Jahr träumen mit Lesen und Veranstaltungen unter Sonnensegeln und Pergolas. Ich freue mich darauf!